Frostkuss
zurückzurennen. Ich hatte gehofft, die beiden würden sich noch einmal über Jasmines Tod unterhalten. Ich hatte nicht damit gerechnet, hier zuzuhören, wie Morgan ihrem heimlichen Freund einen blies. Igitt. Riesenbähigitt …
Plötzlich rieselten Steinstückchen von einem oberen Stockwerk der Bibliothek herunter. Es hörte sich an, als würde es Murmeln regnen, aber Morgan und Samson waren zu beschäftigt, um es zu bemerken. Ich trat unter dem Baum hervor und sah dankbar für die Ablenkung nach oben.
Eine der Steinstatuen stand dichter am Rand des Daches, als sie sollte. Während ich hinsah, schwankte die Statue vor und zurück. Dann kippte sie nach vorne und begann ihren unaufhaltsamen Fall nach unten – wo sie direkt auf Morgan und Samson landen würde.
»Vorsicht!«, schrie ich.
Überrascht lösten sich die beiden voneinander. Samson sah auf und entdeckte die Statue, die auf sie zuraste. Er warf sich auf Morgan und brachte sich selbst und sie aus der Gefahrenzone. Hinter ihnen krachte, an genau der Stelle, an der sie noch zwei Sekunden vorher gestanden hatten, die Statue auf den Boden und zerbrach in tausend Stücke.
Ich rannte die nächstgelegene Bibliothekstreppe hinauf und eilte zu ihnen. Die beiden lagen auf dem Boden des Arkadenganges. »Geht es euch gut?«
»Runter von mir«, murmelte Morgan. »Du verknitterst meinen neuen Kaschmirpullover.«
Mit einem Grunzen rollte sich Samson von ihr herunter und damit in eine Lichtpfütze. Ich sah, dass er alle Kleidung unterhalb der Hüfte nach unten gezogen hatte, um Morgan ihren Job einfacher zu machen. Schnell wandte ich den Blick ab.
»Ähm, geht es euch beiden gut?«, fragte ich wieder und sah absolut nicht hin, während Samson sich aufrappelte und alles wieder in seiner Hose verstaute.
»Uns ging’s prima, bis du aufgetaucht bist, du Freak«, murmelte Morgan.
Sie stand auf, klopfte sich den Dreck von der Kleidung und starrte mich böse an. Dann rümpfte sie die Nase und schaute zu dem schmiedeeisernen Tisch, auf dem sie ihr Bier abgestellt hatte. Der Tisch war während des Aufruhrs zusammen mit dem Becher umgefallen, und die Walküre schien sich mehr über ihr vergossenes Getränk aufzuregen als über die Tatsache, dass ihr fast ein Steinbrocken das Hirn aus den Ohren gequetscht hätte.
»Was tust du überhaupt hier?«, fragte Samson und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. »Hast du uns nachspioniert?«
Mein Hirn war plötzlich vollkommen leer. »Ich …«
»Sie ist ein Gypsyfreak. Sie ist niemand. Wen interessiert, was sie getan hat?«, sagte Morgan. »Lass uns gehen. Jetzt. Ich habe dir doch gesagt, dass es eine blöde Idee war. Wir hätten einfach zu den Wohnheimen zurückgehen sollen. Aber nein, du stehst ja drauf, es in der Öffentlichkeit zu treiben.«
Samson schnaubte. »Oh, als hättest du was dagegen. Heute Nachmittag hast du mich im Innenhof quasi angefallen.«
Morgan stemmte die Hände in die Hüfte, öffnete den Mund und wollte Samson offensichtlich Saures geben. Aber dann fiel der Walküre ein, dass ich immer noch dastand und sie beobachtete.
Ich wollte gerade protestieren, dass ich kein Gypsyfreak, kein Niemand war, aber Morgan warf mir einen weiteren bösen Blick zu, packte Samsons Hand und zerrte ihn hinter sich her, als sie an mir vorbeistürmte.
Das war mal richtig mies gelaufen. Ich hatte nichts Nützliches gehört, und jetzt dachten die beiden, ich sei eine kranke Spannerin, die gerne Leute beim Oralsex beobachtete. Ich seufzte.
Aber dann verdrängte ich den Gedanken an die letzten paar peinlichen Minuten und starrte an der Bibliothek nach oben. Meine Mutter Grace hatte als Ermittlerin nie an Zufälle geglaubt, und sie hatte mir beigebracht, sie ebenfalls nicht einfach hinzunehmen. Also konnte ich nicht anders, als mich zu fragen, wie und warum sich diese Statue genau in dem Moment vom Dach gelöst hatte, als Morgan und Samson darunter standen.
Hatte noch jemand herausgefunden, dass sie sich heimlich wegschlichen? Jemand, der einem oder sogar beiden schaden wollte? Wenn ja, wer würde so etwas tun? Und warum?
Jasmine war die Einzige, die gute Gründe gehabt hatte, Morgan und Samson zu hassen. Zumindest, soweit ich wusste. Aber Jasmine war tot. Ich wusste nicht, wie alles in Mythos lief, aber ich war mir ziemlich sicher, dass tote Leute keine Statuen von Gebäuden werfen konnten.
Ich starrte die steinernen Überreste an. Die Statue war größer gewesen als ich, aber jetzt war nicht mehr allzu viel davon übrig.
Weitere Kostenlose Bücher