Frostkuss
viel zu der Idee, früher zu gehen.
Die nächste Stunde verbrachte ich damit, die schweren, quietschenden Wagen in der Bibliothek hin und her zu schieben und alle Bücher an die richtigen Stellen in den Regalen zu räumen. Natürlich hatte jeder einzelne Wagen ein blockierendes Rad, das ihn entweder in die eine oder die andere Richtung ziehen ließ, sodass ich jedes Mal kämpfen musste, damit die Karren geradeaus durch die Reihen rollten.
Schließlich führte mich mein Weg auch an Der Vitrine vorbei, wie ich sie inzwischen nannte – die Vitrine mit dem seltsamen Schwert darin. Ich hätte meinen quietschenden Wagen einfach weiterschieben sollen, aber stattdessen hielt ich fast gegen meinen Willen an und starrte wieder auf die Waffe hinunter.
Sie sah aus wie immer – eine lange Klinge aus silbrigem Metall. Vielleicht lag es ja nur an mir und all dem seltsamen Zeug, das in den letzten Tagen passiert war, aber das Gesicht des Mannes auf dem Heft schien mir sogar noch deutlicher als vorher – als wäre er eine echte Person, die nur zufällig ihre Wange gegen das Metall lehnte. Ich rechnete halb damit, dass das Auge am Heft aufsprang und mich wieder mit bösen Blicken bedachte. Ich hielt den Atem an, aber nichts geschah.
Trotzdem. Aus irgendeinem Grund sorgte das Schwert dafür, dass ich an all die Mythen und Sagen denken musste, die meine Mom mir früher vorgelesen hatte. Sie hatte mir nie Märchen erzählt, nur Mythen, was ich immer ein wenig seltsam gefunden hatte. Vielleicht hatte meine Mom etwas gewusst, das ich nicht wusste – wie die Tatsache, dass ich irgendwann in Mythos landen würde –, aber sie hatte immer darauf bestanden, mir diese Sagen vorzulesen. Die Geschichten, in denen der Held immer die Antwort auf das schwierige Rätsel wusste oder herausfand, wie man das große, unbesiegbare Monster doch fertigmachen konnte. Ich hatte das Gefühl, es bräuchte nur die richtige Person, die das Schwert vor mir berührte, und Dinge würden geschehen , genau wie es in den Mythen immer der Fall war.
Plötzlich bemerkte ich eine seltsame Spannung in der Luft, als würde sich langsam immer mehr statische Elektrizität um mich herum aufbauen. Meine Handflächen juckten, und ich hatte das plötzliche Bedürfnis, Die Vitrine zu öffnen und das Schwert herauszunehmen. Ich wusste nicht, warum. Es war ja nicht so, als hätte ich wirklich damit umgehen können oder so. Nicht wie Logan Quinn. Trotzdem, irgendetwas brachte mich dazu, die Waffe ergreifen zu wollen. Es war fast, als müsste ich sie nehmen. Wie hypnotisiert streckte ich die Hände in Richtung Der Vitrine …
»Gwendolyn!« Nickamedes’ Stimme dröhnte durch die Bibliothek und wurde von der Decke als Echo zurückgeworfen. »Du hast noch fünf Minuten, um diese Bücher fertig einzuräumen. Beeil dich!«
Die Überraschung riss mich aus meiner Trance. Ich ließ die Hand sinken und zog mich langsam von Der Vitrine zurück. Was hatte ich mir dabei gedacht? Ich wusste ja nicht mal, was dieses Schwert war oder welche Psychokiller-Schwingungen damit vielleicht verbunden waren. Das Letzte, was ich heute Abend brauchen konnte, war, etwas zu berühren und dank meiner Psychometrie den nächsten Schreianfall zu bekommen. Himmel, Gwen! Reiß dich zusammen.
»Gwendolyn!«, schrie Nickamedes wieder.
Ich verdrehte die Augen, ging zurück zum Wagen und bugsierte ihn die Regalreihe entlang. Aber trotzdem drehte ich mich aus irgendeinem Grund noch mal um und warf dem Schwert einen letzten sehnsüchtigen Blick zu, bevor ich um eine Ecke bog und es aus meinem Blickfeld verschwand.
Eine halbe Stunde später stand ich vor dem Walhalla-Wohnheim, starrte an dem Gebäude aus grauem Stein hinauf und musterte das Efeu, das es fast bis zum Giebel überwucherte.
Doch diesmal war ich nicht hier, um mich einzuschleichen und Jasmines Laptop zu stehlen, sondern ich war tatsächlich ein geladener Gast. Seltsam, wie Dinge sich in ein paar Tagen ändern konnten.
Eine Walküre, die ich als Schülerin im dritten Jahr erkannte, verließ gerade das Wohnheim. Also konnte ich hineingehen, ohne auf den Knopf an der Gegensprechanlage zu drücken und Daphne zu bitten, mich reinzulassen.
Ich durchquerte denselben Aufenthaltsraum wie beim ersten Mal, mit all seinen Sofas, Sesseln und Fernsehern. Es war jetzt nach sechs, und einige der anderen Mädchen saßen bereits unten, um auf ihre Verabredung zu warten, da der Ball um sieben anfing. Sie balancierten alle vorsichtig auf den Sofakanten, um ihre
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