Frostnacht
Strahlen ihrer Heilmagie verschwand. Ich musterte Nickamedes. Er schwitzte nicht mehr, und seine Augen waren geschlossen, als schliefe er friedlich. Ich erlaubte mir einen leisen Seufzer der Erleichterung, genau wie Daphne und der Rest meiner Freunde. Nickamedes würde in Ordnung kommen …
Metis ließ sich gegen einen der metallenen Bücherkarren sinken. Ihre Schultern sackten nach unten, und sie wirkte vollkommen erschöpft. Ihre schwarzen Haare hatten sich aus dem üblichen Dutt gelöst, und Metis’ bronzefarbene Haut war unnatürlich fahl. Sie wirkte fast so krank wie Nickamedes, als er zusammengebrochen war. Ich runzelte die Stirn. Ich hatte noch nie gesehen, dass Metis nach einer Heilung so ausgezehrt gewirkt hätte. Oliver musste Nyx irgendwann in den letzten Minuten auf den Boden gesetzt haben, denn der Wolfswelpe tapste vor und leckte einmal sanft über die Hand der Professorin. Metis lächelte und kraulte Nyx den Kopf, doch sie wirkte noch erschöpfter als gerade eben – falls das überhaupt möglich war.
»Professor?«, fragte ich.
Metis starrte mit besorgter Miene auf Nickamedes hinunter. »Er ist stabil – für den Moment.«
Wieder sammelte sich dieses flaue Gefühl in meinem Magen und erstickte die Hoffnung, die mich noch vor einem Augenblick erfüllt hatte. »Für den Moment? Was soll das heißen?«
Sie sah zu mir auf, und in ihren grünen Augen las ich Schmerz, Erschöpfung und Trauer. »Das bedeutet, dass Nickamedes sterben wird, wenn wir nicht herausfinden, welche Art von Gift die Schnitter eingesetzt haben.«
Nickamedes? Sterben?
Das schien einfach unmöglich. Konnte nicht wahr sein. Er konnte nicht sterben. Nicht so. Nicht wenn die Schnitter doch vorgehabt hatten, mich zu töten.
Für einen Moment schwankte ich, genau wie der Bibliothekar vor seinem Zusammenbruch. Dann wurden all die schrecklichen Gefühle der letzten Wochen – all das Leid und die Angst und Sorgen – von dem Zorn verdrängt, der in meiner Brust aufloderte. Die Schnitter hatten mir bereits meine Mom genommen. Hatten Nyx’ Mom, Nott, getötet. Sie würden nicht noch jemanden bekommen – nicht wenn ich es verhindern konnte.
Ich schüttelte Daphnes Hand ab, ging auf Hände und Knie und spähte unter den Tresen.
»Gwen?«, fragte Daphne. »Was tust du da?«
Ich antwortete nicht. Ich war vollkommen auf eine Sache konzentriert – Nickamedes’ Wasserflasche.
Ich zog mir den Ärmel meines Kapuzenshirts über die Hand und fischte damit die Flasche aus den Schatten, wobei ich sorgfältig darauf achtete, das Wasser unter dem Behälter nicht zu berühren. Die Plastikflasche rollte auf mich zu und stieß an den Stuhl, auf dem ich immer saß, wenn ich in der Bibliothek arbeitete. Bevor noch jemand fragen konnte, was ich tat, schnappte ich mir die Flasche, schloss die Augen und griff nach meiner Magie.
Ich hörte jemanden überrascht keuchen, vielleicht Carson, doch ich ignorierte das Entsetzen meiner Freunde und konzentrierte mich auf die Flasche. Aber ich sah nur dieselben Bilder, die ich auch von der Galerie aus gesehen hatte – wie Jason Anderson das Gift ins Wasser schüttete. Ich konzentrierte mich intensiver, und einen Moment später füllte Nickamedes’ Gesicht meinen Geist, zusammen mit der Erinnerung, wie er nach der Flasche griff und einen Schluck davon nahm. Er hob das Wasser gerade zum zweiten Mal an die Lippen, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte – ich, die den Schnitter anschrie. Danach fühlte ich seine Überraschung und Verwirrung darüber, dass ich mitten in der Bibliothek mit einem Jungen kämpfte. Das letzte Bild zeigte, wie ich ihm die Flasche aus der Hand schlug, ohne zu verstehen, dass es bereits zu spät war …
Das war alles. Nur eine Abfolge von Geschehnissen. Nichts Nützliches. Keine Erklärung, warum Jason versucht hatte, mich zu töten, oder welches Gift er dafür eingesetzt hatte.
Ich öffnete die Augen und stand mit der leeren Flasche in der Hand auf. Ich sah sie einen Moment an, dann schleuderte ich sie so fest wie möglich gegen die Glaswand hinter mir. Doch natürlich prallte das Plastik einfach nur ab und rollte klappernd über den Boden, was mich nur noch wütender und frustrierter machte.
Einen Moment lang stand ich einfach da und kochte vor mich hin, bevor ich herumwirbelte, am Tresen vorbeistiefelte und tiefer in die Bibliothek ging.
»Gwen? Gwen!«, schrie Daphne. »Wo willst du hin?«
»Das wirst du schon sehen.«
Ich holte tief Luft, dann rannte ich los. Ich wusste
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