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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Estep
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genau, was ich jetzt tun musste, und ich wollte nicht, dass meine Freunde mich davon abhielten. Ich raste zwischen den Regalreihen hindurch, rammte meine Schulter gegen eine der Seitentüren, um sie aufzustoßen, und eilte nach draußen. Dann lief ich die nächstgelegenen Stufen hinunter auf den Hof.
    Der tote Schnitterjunge lag noch genauso da wie vorher, auch wenn jetzt zwei Protektoratswachen in grauen Roben über ihm Wache standen. Die Wachen unterbrachen ihr Gespräch, als sie sahen, wie ich auf sie zurannte. Ich ignorierte sie und fiel neben Jason auf die Knie. Sofort schmolz der kalte Schnee und durchnässte meine Hose.
    »Gwen!«, schrie Oliver hinter mir. »Nein! Es ist zu gefährlich! Tu das nicht!«
    Doch er kam zu spät, und mir war egal, wie gefährlich es war. Ich griff nach Jasons Hand und rief die Erinnerungen.
    Jason Anderson war seit gut zwanzig Minuten tot, und ein Großteil seiner Körperwärme war bereits verflogen, zusammen mit seinen Erinnerungen. Doch ich umklammerte seine Hand fester und versenkte mich in den paar verbliebenen Bildern.
    Der Großteil der flackernden, aufblitzenden Szenen zeigte, wie er gegen mich kämpfte und durch die Bibliothek rannte, um mir und Oliver zu entkommen. Ich konzentrierte mich auf die Gefühle, doch Jasons Geist war eine Mischung aus Wut darüber, dass er es nicht geschafft hatte, mich zu vergiften, und aufsteigender Angst, nicht zu entkommen. Denn dann blieb ihm nur eine Wahl – selbst den verbleibenden Beutel Gift zu schlucken. Er wusste, dass diese Wahl barmherziger war als das, was Vivian, Agrona und die anderen Schnitter ihm antun würden, wenn er sein Versagen eingestand.
    Mein Magen hob sich, als ich seine grimmige Entschlossenheit auffing, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um der Gefangenschaft zu entgehen. Aber ich umklammerte Jasons Hand fester und warf mich noch tiefer in die Reste seiner Erinnerung. Es war fast, als würde ich einen Film rückwärts schauen. Jason starb, Jason wurde durch die Bibliothek gejagt, vergiftete die Wasserflaschen und schlich sich vorsichtig an den Ausleihtresen heran. Wieder sah oder fühlte ich nichts, was ich nicht bereits wusste, und die Erinnerungen wurden mit jeder Sekunde schwächer und undeutlicher.
    Ich wollte gerade aufgeben und seine Hand loslassen, als eine letzte Erinnerung in meinem Bewusstsein aufblitzte – in der er an einem Studiertisch saß und in einem Nachschlagewerk blätterte. Fast hätte ich dieses gewöhnliche Bild abgetan und in die aufsteigende Dunkelheit seines verblassenden Geistes rutschen lassen, doch dann traf mich eine Welle von Gefühlen – von Aufregung.
    Ich blinzelte. Warum sollte Jason so aufgeregt sein, nur weil er in einem langweiligen alten Nachschlagewerk blätterte? Ich liebte Bücher, aber selbst ich konnte mich dabei nicht so freuen. Also zoomte ich die Erinnerung näher heran und betrachtete jedes Detail genau.
    Jason las das Buch eigentlich gar nicht, sondern sah sich ständig unauffällig um, hielt den Atem an und hoffte, dass niemand das Buch bemerkte oder mitbekam, was er vorhatte. Jedes Mal, wenn er auf das Buch hinabsah, überflog er ein paar Absätze, dann nickte er, als kenne er die Fakten bereits und wiederhole sie nur für eine wichtige Prüfung – nämlich die Aufgabe, mich zu töten. Es wirkte fast, als zwinge er sich immer wieder, auf das Buch zu sehen, um dann absichtlich den Blick abzuwenden. Ich verstand einfach nicht, warum. Also konzentrierte ich mich noch intensiver, um jede noch so kleine Einzelheit der Szene zu sehen und so viel wie möglich aus den offenen Seiten vor ihm zu erfahren.
    Es war ein dickes Buch, alt, staubig und abgegriffen. Wahrscheinlich irgendein unbekanntes Nachschlagewerk, das vielleicht einmal im Jahr aus dem Regal gezogen wurde, wenn jemand es für eine Hausarbeit brauchte. Nicht besonders hilfreich, da es in der Bibliothek Hunderttausende Bücher gab. Ich könnte ein Jahr suchen und dieses spezielle Buch nicht finden.
    Als Jason das nächste Mal auf das Buch schaute, bemerkte ich, dass die Seite mit einem Eselsohr markiert war und ein paar Zeilen mit rotem Marker unterstrichen worden waren. Ich kniff die Augen zusammen. Das würde Nickamedes nicht gefallen. Ich hatte mehr als einmal gehört, wie er Schülern lange Gardinenpredigten darüber hielt, dass es verboten war, die Seiten zu knicken und Absätze zu unterstreichen.
    Bei dem Gedanken an Nickamedes verkrampfte sich mein Herz, doch ich hielt meine Konzentration aufrecht.

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