Frostnacht
darauf.
Viele der Bilder zeigten dieselben Kreaturen, denen ich auch täglich an der Akademie begegnete – Drachen, Basilisken, Gargoyles, Chimären, sogar einen Minotaurus. Aber es waren auch andere Tiere abgebildet – Bären, Wölfe, Büffel, Kojoten, Hasen, Stachelschweine. Alle drei Meter hoch und erschreckend lebensecht, als wollten sie jeden Moment aus dem Stein ausbrechen und zu Boden springen.
Sobald ich die Reliefs entdeckt hatte, fielen mir noch andere Dinge auf, die ich vorher übersehen hatte. Zwei Rüstungen, die jeweils eine riesige Streitaxt umklammerten, standen rechts und links neben dem Trinkbrunnen, während eine Reihe Bilder irgendwelcher blutigen mythologischen Schlachten die Wände neben den Türen zum Gleisbereich zierte. Kleine Holzschnitzereien mythologischer Kreaturen standen in mit Glasscheiben abgetrennten Wandnischen und starrten die Reisenden im Wartesaal an.
Die Reliefs, die Statuen, die Bilder, die Rüstungen. In gewisser Weise war mir all das unheimlich vertraut – und seltsam tröstend. Am Anfang meiner Zeit in Mythos hatte ich mich auf der Akademie fehl am Platz gefühlt, aber inzwischen konnte ich mir nicht mehr vorstellen, nicht zur mythologischen Welt zu gehören. Die Reliefs und Statuen verrieten mir, dass ich in meinem Element war – sozusagen.
Wir hatten eine halbe Stunde Wartezeit totzuschlagen, bevor unser Zug kam. Die anderen zogen ihre Handys heraus, um nachzusehen, ob sie SMS bekommen hatten, aber ich wanderte durch den Raum und zog eine Broschüre aus einem Ständer neben dem Kartenschalter. Ich fing einen vagen Eindruck von anderen Leuten auf, die ebenfalls durch die Seiten blätterten, mehr jedoch nicht. Das war die Art kleiner Schwingung, die ich erwartete, da Dutzende Leute dieselbe Broschüre angefasst und wieder in den Ständer gestellt hatten.
Ich musterte die Fotos und erkannte, dass Snowline Ride, der Vorort, in dem diese Akademie lag, Cypress Mountain sehr ähnlich war. In beiden Vororten gab es eine Reihe teurer Designerläden, Coffee-Shops und Buchläden. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Snowline Ridge außerdem ein hochpreisiges Skiresort besaß. Von der Akademie stand nichts in der Broschüre.
Ich hatte das Blättchen fast durchgelesen, als sich mir das Gefühl aufdrängte, beobachtet zu werden. Ich hatte den Eindruck, als stünde jemand gerade außerhalb meines Sichtfeldes und starrte mich an. Doch als ich den Kopf herumriss, sah ich nur das übliche Gedränge von Leuten, die sich durch die Bahnhofshalle bewegten. Niemand schien mich auch nur im Mindesten zu beachten.
Ich seufzte und schob die Broschüre wieder in ihren Ständer. Gerade als ich zu meinen Freunden zurückkehren wollte, entdeckte ich ein Mädchen, das ein paar Schritte entfernt an der Wand lehnte. Sie war ungefähr in meinem Alter, siebzehn oder vielleicht auch ein Jahr jünger, und trug das glänzende schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre Kleidung bestand aus schwarzen Stiefeln und Designerjeans mit einem weißen Rollkragenpulli und einer waldgrünen Lederjacke darüber, die sie gleichzeitig wehrhaft und schick wirken ließ. Vor ihren Füßen stand eine dunkelgrüne Umhängetasche auf den Boden.
Sie war nicht die einzige Jugendliche im Bahnhof. Tatsächlich entdeckte ich noch mehrere Leute, die einfach Mythos-Schüler sein mussten, zumindest ihren teuren Klamotten und dem wertvollen Schmuck nach zu urteilen. Ganz abgesehen von den farbenfrohen Magiefunken, die um die Walküren tanzten. Doch die normalen Passagiere bemerkten das Zischen und Knistern um sie herum nicht, obwohl eine der Walküren quasi ständig blaue Funken auf die Zeitung des älteren Mannes regnen ließ, der neben ihr saß. Daphne hatte mir erklärt, dass man die Funken nur sehen konnte, wenn man ein Krieger war. Anscheinend sorgte irgendein Kämpfer-Gen aus grauer Vorzeit dafür. Das war auch der Grund, warum Daphne und die anderen Walküren sich nie Sorgen darum machten, ob sie in der Öffentlichkeit Funken sprühten.
Es schien, als würden sich alle anderen Schüler miteinander unterhalten. Einige von ihnen beäugten meine Freunde und fragten sich offensichtlich, wer sie waren und warum sie auf den Zug warteten. Alle schienen sich recht gut zu verstehen – abgesehen von dem Mädchen, das ich gerade bemerkt hatte.
Die anderen Jugendlichen warfen dem Mädchen immer wieder Blicke zu, aber niemand näherte sich ihr, und niemand sprach sie an. Niemand winkte ihr auch nur kurz zu oder
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