Frostnacht
Ellbogen auf einen der Tische. Der Tisch wirkte winzig neben Ajax’ großem, muskulösem Körper, und das Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, ließ die Haut des Trainers glänzen wie polierten Onyx.
Ich stellte meine Umhängetasche neben mir auf die Bank, sodass Vic aus den großen Fenstern sehen konnte. Wann immer das Schwert mir nicht gerade böse Blicke zuwarf, weil ich ihm den Mund zugehalten hatte, beäugte es die vorbeirauschende Landschaft.
Der Waggon, in dem wir saßen, war nicht allzu voll. Im vorderen Teil lümmelten ein paar andere Jugendliche auf den Bänken, während zwei Erwachsene – ein Mann und eine Frau – hinter ihnen einen der Tische besetzten. Alle waren mit ihren Handys oder den Laptops beschäftigt, die sie in dem Moment aufgeklappt hatten, in dem der Zug losgefahren war. Ich musterte die anderen Passagiere, aber niemand schien mich und meine Freunde zu beachten. Tatsächlich schaute niemand im ganzen Waggon auch nur in unsere Richtung. Normalerweise hätte ich das als gutes Zeichen gedeutet, aber etwas an dem vollkommenen Mangel an Interesse erschien mir seltsam. Doch vielleicht war das einfach nur wieder Ausdruck meines Verfolgungswahns.
Zu meiner Überraschung saß das Mädchen, das ich im Bahnhof bemerkt hatte, auch in unserem Abteil, obwohl sie darauf geachtet hatte, ganz hinten zu sitzen, fünf Reihen entfernt von allen anderen. Die junge Frau wandte dem Fenster den Rücken zu und hatte die Beine über die Bank ausgestreckt. Sie bemerkte, dass ich sie schon wieder anblickte, zog eine Grimasse, wandte demonstrativ den Kopf ab und starrte aus dem Fenster.
»Wer ist das?«, fragte Oliver und lehnte sich über den Gang, um besser mit mir sprechen zu können. »Sie wirkt nicht, als wäre sie Mitglied im Gwen-Frost-Fanclub.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Interessiert mich nicht.«
Alexei berührte Olivers Arm, und Oliver zog sich zurück, um zu sehen, was sein Freund wollte.
Die nächste halbe Stunde fuhren wir schweigend. Die Reise war relativ angenehm. Der Zug schaukelte beruhigend von rechts nach links. Ab und zu knirschte es im Getriebe, und Waggon und Fenster klapperten, während die Lokomotive sich den Berg hinaufkämpfte. Ajax zufolge dauerte die Fahrt nach Snowline Ridge ungefähr eineinhalb Stunden, also zogen die anderen ihre Jacken aus, knüllten sie zu improvisierten Kissen zusammen, machten es sich bequem und schliefen ein.
Der Tag hatte kaum begonnen, und ich war bereits erschöpft. Doch sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht einschlafen, weil ich Angst vor einem weiteren Albtraum hatte. Also starrte ich stattdessen aus dem Fenster.
In gewisser Weise ähnelten die Rocky Mountains sehr unserem heimischen Gebirge, den Appalachen. Jede Menge Bäume, viele hervortretende Felszungen, unzählige steinige Bergkämme. Doch hier in den Rockys schien alles irgendwie größer, kantiger und schroffer. Die Bergspitzen stiegen so hoch und scharf in den Himmel, dass sie an Nadeln erinnerten, an denen man sich die Finger hätte verletzen können, wenn es denn möglich gewesen wäre, den Arm auszustrecken und ihre Spitzen zu berühren. Außerdem gab es hier mehr Schnee. Auf dem Boden lag eine dicke Schicht, und frische Flocken wirbelten wie hartes, weißes Konfetti vor den dichten Kiefern durch die Luft. Ich spürte eine … Wildheit in der Landschaft, die es in der Nähe der Akademie in North Carolina nicht gab. Aber vielleicht lag es auch daran, dass das eine Mythos mein Zuhause war und das hier nicht …
Eine Hand landete auf meiner Schulter.
Ich riss den Kopf herum, während meine Hand zur Seite schoss und versuchte, Vics Heft zu erreichen – doch es war nur Trainer Ajax, der über mir aufragte. Ich atmete tief durch.
»Ich gehe in den Speisewagen, um mir Kaffee zu holen«, erklärte Ajax. »Willst du auch etwas?«
Ich schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber ich brauche nichts.«
»Nun, ich bin am Verhungern«, meldete sich Daphne zu Wort.
»Ich auch«, schaltete sich Carson ein.
Die beiden standen auf und folgten Ajax. Der Trainer bewegte sich schwankend auf die Tür am Anfang des Waggons zu. Er streckte die Hand aus und drückte den Knopf, der es ihm erlaubte, in den nächsten Waggon überzuwechseln. Dann verschwanden er, Daphne und Carson aus meinem Blickfeld. Oliver und Alexei schliefen weiter, die Köpfe dicht nebeneinander, weil sie sich aneinandergelehnt hatten. Die beiden gaben ein hübsches Paar ab. Sie hatten sich in den
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