Frostnacht
selbst. Was treibt ihr denn so zurzeit?«
»Kann es sein, dass er ertrunken ist?«, fragte Eva Lind.
Erlendur starrte seine Tochter an. Obwohl sie wusste, dass er nicht auf dieses Thema eingehen wollte, ließ sie sich nicht beirren. Sie starrte unverwandt zurück. Sindri blickte vor sich auf den Tisch.
»Sindri hat gesagt, das sei eine von den Spekulationen gewesen, die er da in den Ostfjorden gehört hat«, fügte sie hinzu.
Sindri schaute hoch.
»Da kennen noch viele Leute die Geschichte«, sagte er, »Leute, die sich an alles erinnern, was passiert ist.«
Erlendur antwortete ihm nicht.
»Was ist deiner Meinung nach geschehen?«, fragte Eva Lind.
Erlendur schwieg immer noch.
»Es war dunkel«, begann Eva. »Ich war im Wasser. Erst habe ich geglaubt, ich wäre im Schwimmbad, aber es war etwas anderes. Ich gehe nie schwimmen, nicht, seit ich in der Grundschule war. Aber auf einmal war ich da im Wasser, und es war unglaublich kalt …«
»Eva …« Erlendur sah seine Tochter bittend an.
»Du hast gesagt, dass ich dir den Traum später erzählen dürfte, hast du das vergessen?«
Erlendur schüttelte langsam den Kopf.
»Und dann ist da ein Junge zu mir gekommen und hat mich angeschaut und gelächelt, und er hat mich sofort an dich erinnert. Erst dachte ich, dass du es wärst. Wart ihr euch ähnlich?«
»So sagten die Leute.«
»Auf jeden Fall waren wir nicht im Schwimmbad«, fuhr Eva Lind fort. »Wir waren bloß in irgendwelchem Wasser, das sich in Schlamm und Matsch verwandelte. Der Junge hörte auf zu lächeln, und alles wurde schwarz. Es kam mir so vor, als würde ich keine Luft mehr bekommen, als würde ich ertrinken oder ersticken. Und ich wachte auf und schnappte nach Luft. Ich hab noch nie einen Traum gehabt, der mir so zugesetzt hat. Nie. Ich werde es nie vergessen, diesen Ausdruck.«
»Diesen Ausdruck?«
»Diesen Gesichtsausdruck, als alles schwarz wurde. Das war …«
»Was?«
»Das warst du«, sagte Eva Lind.
»Ich?«
»Ja, auf einmal warst du es.«
Sie schwiegen.
»War es, nachdem Sindri dir von den Sümpfen erzählt hat?«, sagte Erlendur und blickte Sindri fragend an.
»Ja«, sagte Eva. »Wie ist dein Bruder ums Leben gekommen? Was für Sümpfe sind das?«
»Ist er ertrunken?«, fragte Sindri.
»Es kann sein, dass er ertrunken ist«, sagte Erlendur leise. »Es gibt da Flüsse, die in den Fjord münden«, sagte Sindri. »Ja«, sagte Erlendur.
»Einige meinen, dass er in einen dieser Flüsse gefallen ist.«
»Das ist eine der Theorien. Dass er in die Eskifjarðará gefallen ist.«
»Aber da gibt’s noch eine andere und schlimmere, nicht wahr?«, bohrte Eva Lind weiter.
Erlendurs Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Wieder stieg diese alte Erinnerung an das Pferd in ihm hoch, das schon zu tief in den Sumpf geraten war, als man es zu retten versuchte. Das große und starke Tier, das einem Mann im Ort gehörte. Es schlug wie wild aus, und der Morast spritzte in alle Richtungen, aber je mehr das Tier kämpfte, desto tiefer versank es, bis nur noch der Kopf herausragte, mit den geblähten Nüstern und den wild rollenden Augen, die zum Schluss auch untergingen. Ein grauenvoller Anblick, ein grauenvoller Tod. Immer, wenn er an seinen Bruder dachte, kam dieses Bild des Pferdes in ihm hoch, das tiefer und tiefer im Morast versank, bis es verschwand.
»Oben in den Bergen gibt es Sumpfgebiete«, sagte Erlendur schließlich. »Schwingmoore, die gefährlich sein können. Sie frieren zu, können aber zwischendurch auch wieder auftauen. Es kann sein, dass sie aufgetaut waren und Bergur in sie hineingeriet. Das ist eine Theorie, denn seine sterblichen Überreste wurden nie gefunden.«
»Er ist also von der Erde verschlungen worden?«
»Wir haben Wochen und Monate gesucht«, sagte Erlendur. »Die Leute in der Gegend. Unsere Freunde und Verwandten. Es hat nichts genützt, wir haben nichts gefunden. Nicht das Geringste. Es war buchstäblich so, als hätte die Erde ihn verschluckt.«
Sindri sah seinen Vater lange an.
»Genau das haben die Leute im Osten auch gesagt.«
Wieder herrschte eine Weile Schweigen.
»Warum ist das nach all diesen Jahren immer noch so schwierig?«, fragte Eva.
»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur, »vielleicht, weil man ihn sich vorstellt, irgendwo ganz allein da oben in den Bergen, verirrt, und der Tod ist ihm gewiss.«
Sie schwiegen lange, und das einzige Geräusch, das man noch hörte, war das Heulen des Nordwinds.
Eva Lind stand auf und ging zum
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