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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Wohnzimmerfenster.
    »Der arme Junge«, sagte sie in die kalte Winternacht hinaus.
    Als die beiden gegangen waren, setzte er sich wieder in seinen Sessel. Ihm kam ein Satz aus Elías’ Aufsatzheft in den Sinn, eine kleine Bemerkung oder eine Überlegung, die Elías ganz unten auf eine Seite geschrieben hatte, so als hätte er einen Gedanken festhalten wollen, der ihm zwischendurch eingefallen war. Vielleicht hatte er seine Mutter danach fragen wollen.
    Wie viele Bäume braucht man für einen Wald?

Vierundzwanzig
    Erlendur erwachte nach einer traumlosen Nacht. Auf dem Nachttisch neben ihm lag ein aufgeschlagenes Buch über Lawinenkatastrophen in Island. Außerdem noch einige andere Bücher, andere Zeitzeugenberichte von Bergkatastrophen, ferner Volkssagen und Gespenstergeschichten sowie alte Reiseerzählungen. Meist ging es um tragische Dinge, um Tod und bedrohliche Situationen in extremen Unwettern. Valgerður hatte ihn danach gefragt, ob diese Erzählungen sich nur um Tod und Vernichtung drehen würden, woraufhin Erlendur geantwortet hatte, dass es in vielen Fällen durchaus auch um glückliche Rettung, unendliches Durchhaltevermögen und Zähigkeit von Menschen ginge, die derartige Strapazen überlebt hatten. Darin lag seiner Meinung nach die Bedeutung dieser Berichte, deswegen waren sie so wichtig.
    Erlendur musste zugeben, dass in den meisten Geschichten keinerlei Humor zu finden war. Trotzdem konnte man aber hin und wieder auf komische Aspekte in furchtbaren Situationen stoßen. Er hatte vor dem Einschlafen einen solchen Bericht aus dem Amtsbuch eines Pfarrers von 1847 gelesen. Dort ging es um einen Knecht, der in die Berge geschickt worden war, um Schafe zu suchen, und ihm war wegen der Lawinengefahr eingeschärft worden, besonders vorsichtig zu sein. Als der Knecht nicht zur erwarteten Zeit zurückkehrte, wurden zwei Männer losgeschickt, um nach ihm zu suchen. Sie durchkämmten die ganze Gegend und kamen zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich mit einer Schneewechte in eine Schlucht abgestürzt sein musste. Die Männer scharrten mit den bloßen Händen im Schnee und sahen, als sie etwa drei Ellen tief gekommen waren, die Fußsohlen des Knechts. Sie gingen davon aus, dass er tot war und hörten auf zu graben. Als sie zum Hof zurückkehrten, berichteten sie, dass sie den Knecht gefunden hatten, er sei aber wohl tot. Nun entspann sich eine heftige Diskussion, denn die Leute auf dem Hof waren sich keineswegs einig darüber, dass der Mann tot sein musste. Die beiden wurden wieder losgeschickt, diesmal mit Schaufeln und Kampfer-und Hoffmannstropfen ausgerüstet. Als sie den Mann ausgegraben hatten, stellte sich heraus, dass er mit der Lawine kopfüber in die Schlucht gestürzt und trotz allem noch am Leben war. »Und als man ihn freigeschaufelt hatte, plauderte er sofort drauflos.«
    Erlendur konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er aufstand und die Kaffeemaschine anstellte. Sigurður Óli rief an, und sie unterhielten sich kurz über das Messer aus dem Metallcontainer. Praktisch jeder in der Schule hätte das Messer aus dem Werkraum mitgehen lassen können, falls es denn tatsächlich aus dieser Schule stammte. Im Werkraum herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, Schüler, Lehrer und anderes Personal. Egill hatte ebenfalls recht damit gehabt, dass die Schnitzmesser in allen Schulen die gleichen waren. Es war ungewiss, ob man es mit dem Mord an Elías in Verbindung bringen konnte. Der Angestellte des Recycling-Centers hatte es ja bereits bei seiner Arbeit benutzt und außerdem gesagt, dass es so ausgesehen habe, als sei es speziell gesäubert worden, bevor es im Müllcontainer landete, blank poliert sei es gewesen.
    Wieder klingelte das Telefon, diesmal war es Elínborg.
    »Sie wurde gefunden«, sagte sie ohne Umschweife, »die vermisste Frau.«
    »Wer?«
    »Die vermisste Frau. Genau da, wo ich gesagt habe, dass wir sie finden würden. Auf Reykjanes, in den Lavaklippen südlich des Aluminiumwerks.«
    Die Mitarbeiter der Spurensicherung standen dick vermummt neben der Leiche. Ein Stativ mit zwei Scheinwerfern, das vom Wind umgeworfen worden war, lag mit zerbrochenen Birnen am Boden. Erlendur war dem holperigen Weg durch die Lava in seinem alten Ford so lange gefolgt, bis er sich nicht weitertraute, und war das letzte Stück zu Fuß gegangen. Die Gegend südlich der Aluminiumhütte hieß Hraun. In der zerklüfteten Lavaküste gab es viele kleine Buchten mit spitzen Schären. Immer wieder gingen dichte

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