Frostnacht
Tod gefunden hatte. Seine Gedanken schweiften über Berge und Hochebenen zu einem anderen Kind, dessen Hand ihm entglitten war und das ihm wie ein Schatten durchs Leben folgte.
Erlendur sah hoch. Er wusste, dass er es nicht länger aufschieben konnte, mit Sunee zu reden. Er drehte sich um und verließ raschen Schritts das Gelände hinter dem Haus. Als er zum Eingang kam, bemerkte er, dass die Tür zum Kellerraum, wo die Mülltonnen untergestellt wurden, offen stand, nicht weit, nur einen kleinen Spalt. Dem hatte er bislang überhaupt keine Beachtung geschenkt. Die Tür schloss direkt an die Wand des Eingangs an und war in derselben Farbe wie der Rest des Gebäudes gestrichen. Dass die Tür aufstand, musste aber nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben. Alle möglichen Personen konnten ihren Müll weggebracht haben. Der wachhabende Polizist am Eingang wärmte sich im Hauseingang.
Erlendur zögerte einen Moment, bevor er auf die Tür zuging und sie öffnete. Drinnen war es stockfinster, er suchte nach einem Schalter und machte das Licht an. An der Decke hing eine nackte Birne. Die Mülltonnen standen aufgereiht an den Wänden und unter der Müllschluckerrampe. In dem kalten Raum roch es säuerlich nach Essensresten und anderem Abfall. Erlendur zögerte, dann knipste er das Licht wieder aus und lehnte die Tür wie vorher an. Im gleichen Augenblick hörte er das Schluchzen.
Er brauchte eine ganze Weile, um das Geräusch einzuordnen. Vielleicht hatte er sich auch verhört. Vielleicht interpretierte er es falsch. Er riss die Tür zum Müllkeller wieder auf und knipste das Licht wieder an.
»Ist da jemand?«, rief er.
Als keine Antwort kam, betrat er den Raum, rückte die Mülltonnen hin und her und sah sich gründlich um. Als er die Tonne unter der Müllschluckerrampe wegschob, kauerte hinter ihr ein schwarzhaariger Junge und vergrub den Kopf zwischen den Knien, als wolle er sich unsichtbar machen.
»Niran?«, sagte Erlendur.
Der Junge rührte sich nicht.
»Bist du das, Niran?«
Der Junge antwortete ihm nicht. Erlendur kniete sich hin und versuchte, ihn dazu zu bringen aufzublicken, aber er erreichte damit nur, dass er den Kopf umso tiefer zwischen den Knien vergrub. Er hielt die Beine fest umklammert.
»Komm, lass uns hier rausgehen«, sagte Erlendur, aber der Junge tat, als sei Erlendur gar nicht anwesend.
»Deine Mutter sucht nach dir.«
Erlendur griff nach der Hand des Jungen. Sie war kalt wie ein Eiszapfen. Niran hielt seinen Kopf immer noch zwischen den Knien. Es hatte ganz den Anschein, als ginge er davon aus, dass Erlendur verschwinden und ihn in Ruhe lassen würde.
Nach einiger Zeit wurde Erlendur klar, dass er nichts ausrichten konnte. Er erhob er sich langsam, verließ rückwärts den Kellerraum und klingelte bei Sunee an. In der Gegensprechanlage meldete sich die Dolmetscherin. Erlendur gab ihr zu verstehen, dass er den Jungen wahrscheinlich gefunden habe, er sei wohlauf, aber seine Mutter müsse herunterkommen und mit ihm reden. In Windeseile kam Sunee nach unten und mit ihr der Bruder, die ehemalige Schwiegermutter und die Dolmetscherin. Erlendur hielt sie an der Tür zurück und ließ nur Sunee in den Müllkeller gehen.
Als sie den zusammengekauerten Jungen unter der Rampe erblickte, stieß sie einen leisen Schrei aus, lief zu ihm hin und umarmte ihn. Dann erst gab der Junge seine Haltung auf und warf sich seiner Mutter in die Arme.
Irgendwann tief in der Nacht kam Erlendur nach Hause in seine »Höhle«, wie Eva Lind seine Wohnung zu einer Zeit genannt hatte, als er noch daran glaubte, dass ihre Beziehung sich bessern würde. Sie behauptete, er würde sich darin verkriechen, um die Einsamkeit zu beweihräuchern. Das waren aber nicht genau ihre Worte gewesen, denn Eva hatte einen sehr begrenzten Wortschatz, aber das war es, was sie meinte. Er machte kein Licht. Der schwache Schein der Straßenbeleuchtung warf ein fahles Licht ins Wohnzimmer, wo seine Bücher standen. Er ließ sich auf seinen Sessel fallen. So hatte er oft allein im Dunkeln gesessen und zum großen Wohnzimmerfenster hinausgeschaut und nichts als den endlosen Himmel gesehen. Bei klarem Winterwetter glitzerten die Sterne. Manchmal beobachtete er den Mond, wenn er in seinem kalten und fernen Glanz am Fenster vorbeiwanderte. Wenn der Himmel wie jetzt verhangen und finster war, starrte Erlendur in die Finsternis hinaus, als wolle er seine müden Gedanken ins Leere entsorgen.
Er sah Elías vor sich, wie er im Garten des Wohnblocks
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