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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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lag, und wieder kam ihm die Erinnerung an einen anderen Jungen vor all diesen Jahren, dieser schier endlosen Ewigkeit, einen Jungen, der in den entfesselten Elementen den Tod gefunden hatte. Es war sein Bruder gewesen, acht Jahre alt. Erst jetzt, als er in seiner eigenen Wohnung allein mit sich und der nächtlichen Stille war, wurde ihm klar, was für einen tiefen Eindruck der tote Junge heute bei ihm hinterlassen hatte. Die Erinnerung an seinen Bruder stürmte unausweichlich auf Erlendur ein. Die Wunde, die sein Tod hinterlassen hatte, war nie verheilt. Schuldgefühle hatten Erlendur sein ganzes Leben lang verfolgt, weil er glaubte, er trüge die Schuld am Schicksal seines Bruders. Er hätte der Hüter seines Bruders sein müssen, hatte aber versagt. Außer ihm selber hatte kein anderer je diese ungerechtfertigte Forderung an ihn gestellt. Kein einziger Mensch hatte jemals ein Wort darüber verloren, dass er versagt hatte. Aber wenn er seinen Bruder nicht im Schneesturm aus den Augen verloren hätte, hätten sie beide gefunden werden können, als die Suche nach ihnen aufgenommen wurde und Erlendur in erstaunlich guter Verfassung aus dem Schnee ausgegraben wurde.
    Er sah Niran vor sich, als Sunee ihn weinend aus dem Müllkeller herausführte. Ging es ihm ebenso, hatte er vielleicht auch das Gefühl, dass er der Hüter seines Bruders hätte sein müssen?
    Erlendur stöhnte tief auf und schloss die Augen. Diese endlosen Gedanken, die sich auf dem Weg in einen traumlosen Schlaf wie Glassplitter in sein Bewusstsein bohrten.
    Er denkt an Elínborg, die sich vollkommen erschöpft an ihre Tochter schmiegt, als wolle sie sie vor allem Bösen bewahren.
    Er sieht Sigurður Óli vor sich, der sich mit sorgenvoller Miene nach Hause schleicht und darauf achtet, Bergþóra nicht zu wecken.
    Elías liegt im Garten des Wohnblocks mit zerrissenem Anorak, und die gebrochenen Augen starren in den stiebenden Schnee.
    Óðinn geht in seiner Wohnung an der Snorrabraut auf und ab.
    Niran liegt in seinem Zimmer, und seine Lippen bewegen sich in schweigender Angst.
    Sunee sitzt allein auf dem Sofa und weint lautlos unter dem gelben Drachen.
    Die Frau, die er sucht, wird von Wellen hin und her gewiegt.
    Sein achtjähriger Bruder liegt erfroren im Schneesturm, der ein ganzes Leben währen wird.
    In einem Traum voller Sonne wippt ein kleiner Vogel vor seinem neuen Vogelhaus mit dem Schwanz und singt für seinen Freund.

Neun
    Als Erlendur, Elínborg und Sigurður Óli am nächsten Morgen bei der Schule eintrafen, hatte es gerade zur großen Pause geklingelt. Die Kinder gingen alle still nach draußen. Sämtliche Hauseingänge standen weit offen, und Lehrer und Hausmeister steuerten den Strom der Kinder. Früh am Morgen hatte es geschneit. Die Jüngeren nutzten jede Minute, um im Schnee herumzutollen, während die älteren Jahrgänge sich etwas gelassener gaben, sie standen, an die Wände gelehnt, herum oder schlenderten in kleinen Grüppchen zum Kiosk.
    Erlendur wusste, dass die Kinder in Elías’ Klasse psychologisch betreut wurden, was einige der Eltern, die ihre Kinder selbst zur Schule gebracht hatten, nutzten, um sich mit den Lehrern über ihre Besorgnisse wegen ihrer Kinder zu unterhalten. Der Schulleiter hatte verfügt, dass sich mittags alle Schüler und das gesamte Schulpersonal in der Aula zu einer Gedenkstunde für Elías einfinden sollten. Der zuständige Gemeindepfarrer und ein Vertreter der Polizei würden die Kinder anschließend bitten, dass sich alle, die etwas dazu sagen konnten, was Elías am gestrigen Tag unternommen hatte, oder sonst etwas wussten, was der Kriminalpolizei bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte, bei den Lehrern, beim Rektor oder unter verschiedenen Telefonnummern direkt bei der Polizei melden konnten. Dort konnte man anrufen, ohne seinen Namen sagen zu müssen. Allen, auch den unbedeutendsten Hinweisen würde nachgegangen werden. Elínborgs und Sigurður Ólis Aufgabe war es jetzt, sich mit den Klassenkameraden von Elías über den letzten Tag in seinem Leben zu unterhalten, aber dazu brauchten sie die Einwilligung der Eltern. Elías’ Klassenlehrerin Agnes war sehr kooperativ und hatte sich schon am frühen Morgen telefonisch mit den Eltern in Verbindung gesetzt und von den meisten das Einverständnis erhalten, dass die Kriminalpolizei im Beisein eines Vertreters des Jugendamts mit den Kindern reden durfte. Sie hatte ausdrücklich hervorgehoben, dass es sich nicht um eine Vernehmung im eigentlichen

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