Frostnacht
waren inzwischen wieder zu Hause. Die Polizei fahndete nach dem Jungen, und die Bevölkerung wurde gebeten, sich in ihrer Umgebung nach einem Jungen asiatischer Abstammung umzusehen, einem eher schmächtigen, fünfzehnjährigen Jungen in einem blauen Winteranorak und mit schwarzer Mütze auf dem Kopf, und sich mit eventuell sachdienlichen Hinweisen telefonisch an die Polizei zu wenden.
Óðinn, Elías’ Vater, nahm ebenfalls an der Suche teil. Als er und Sunee sich trafen, redeten sie eine ganze Weile unter vier Augen miteinander. Am Abend zuvor hatte er mit Erlendur über seine Ehe gesprochen und gesagt, dass er nach der Scheidung Elías zu sich nehmen wollte, aber der Junge hatte darauf bestanden, bei seiner Mutter zu bleiben, deswegen habe er nichts unternommen. Er konnte Erlendur so gut wie nichts über diesen neuen Mann in Sunees Leben sagen. Vielleicht war die Beziehung auch schon wieder zu Ende, Óðinn wusste nichts darüber.
Erlendur hielt vor dem Gebäude an. Er fuhr einen über dreißig Jahre alten Ford Falcon, den er im Herbst zuvor gekauft hatte, einen schwarzen Wagen mit weißer Innenausstattung. Er ließ den Motor laufen und zündete sich eine Zigarette an. Es war die letzte in der Schachtel. Er knüllte die Schachtel zusammen und war im Begriff, sie auf den Rücksitz zu werfen, wie er es immer in seinem alten Auto getan hatte. Jetzt hielt er aber inne und steckte die leere Schachtel in die Manteltasche, dieses Auto hier war ihm etwas wert.
Erlendur führte die Zigarette zum Mund und inhalierte tief. Vertrauen, dachte er. Er musste diesen Menschen Vertrauen entgegenbringen. Er dachte an die Frau, nach der er in den vergangenen Wochen gesucht hatte. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Fälle, und einer der dringlichsten hatte seiner Meinung nach indirekt etwas mit einem Ehebruch zu tun. Es handelte sich um einen Vermisstenfall, und Erlendur ging davon aus, dass dies alles mit einem Seitensprung zu tun hatte. Diese Meinung teilten jedoch nicht alle.
Eine Frau hatte kurz vor Weihnachten ihr Zuhause verlassen und war seitdem nicht wieder aufgetaucht. Bis zu dem Zeitpunkt, als der Junge vor dem Block aufgefunden worden war, hatte Erlendur sich so in diesen Fall verbissen, dass Elínborg und Sigurður Óli überzeugt waren, jetzt habe wohl wieder einmal sein altbekannter Starrsinn die Oberhand gewonnen. Alle wussten, dass Erlendur es nicht ertrug, ungelöste Fälle auf seinem Schreibtisch zu haben, vor allem nicht, wenn es um vermisste Personen ging. Wenn andere den Kopf schüttelten und sich selber versicherten, dass sie alles in ihrer Macht Stehende getan hatten, ließ Erlendur nicht locker und weigerte sich aufzugeben.
Die Frau hieß Ellen. Ihr Ehemann machte sich verständlicherweise große Sorgen ihretwegen. Sie waren um die vierzig und hatten zwei Jahre zuvor geheiratet. Als sie sich kennenlernten, waren beide verheiratet gewesen. Die Ehefrau des Mannes war Referatsleiterin im öffentlichen Dienst, und sie hatten drei Kinder zwischen drei und vierzehn Jahren. Die Frau wiederum war mit einem Banker verheiratet, und sie hatten zwei Kinder im Teenageralter. Beide schienen ein glückliches Leben zu führen, und es mangelte ihnen an nichts. Er hatte einen guten Job bei einem expandierenden IT-Unternehmen, sie war in der Tourismusbranche tätig und organisierte Abenteuersafaris ins unbewohnte isländische Hochland. Sie lernten sich kennen, als er mit einigen Geschäftspartnern aus Schweden eine Fahrt ins Ungewisse unternahm, die sie auf Europas größten Gletscher Vatnajökull führte. Ellen hatte die Reise organisiert und die Gruppe zum Vatnajökull begleitet. Daraus entwickelte sich eine Liebesbeziehung, die sie anderthalb Jahre lang geheim hielten.
Zunächst handelte es sich lediglich um eine spannende Abwechslung vom alltäglichen Trott, wenn man dem Ehemann Glauben schenken wollte. Es war nicht schwierig für sie, sich zu verabreden. Sie war von Berufs wegen viel von zu Hause weg, und er konnte immer irgendwelche Ausreden finden. Er spielte beispielsweise Golf, wofür seine Ex-Ehefrau nicht das geringste Interesse aufbringen konnte. Es kam sogar vor, dass er einen Pokal kaufte, in den er etwas wie »Dritter Rang auf dem Borgarholt-Turnier« eingravieren ließ, um ihn seiner Frau zu zeigen. Er fand das irgendwie witzig, denn er spielte zwar viel Golf, gewann aber so gut wie nie.
Erlendur drückte die Zigarette aus. Er konnte sich an die Pokale zu Hause bei dem Mann erinnern. Er hatte sie
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