Frostnacht
Sinne handelte, sondern nur um Informationsbeschaffung. Einige wollte dabei sein, wenn ihr Kind befragt wurde, und warteten mit besorgter Miene auf dem Korridor. Elínborg und Sigurður Óli war ein leer stehendes Klassenzimmer zur Verfügung gestellt worden, und sie hatten angefangen, mit den Kindern zu sprechen.
Erlendur unterhielt sich unterdessen mit dem Schulleiter und fragte vor allem nach dem Werklehrer. Ihm war zu Ohren gekommen, dass dieser, genau wie der Isländischlehrer, eine negative Einstellung Ausländern gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte. Der Rektor, der mit dem Vertreter der Polizei die Gedenkstunde in der Aula vorbereitete, machte einen ziemlich hektischen Eindruck. Er schickte Erlendur zum Werkraum, wo er aber niemanden vorfand. Als er zurück ins Lehrerzimmer kam, erfuhr er, dass der Werklehrer vermutlich in seinem Auto auf dem Parkplatz vor der Schule anzutreffen war. Erlendur glaubte herauszuhören, dass er sich in der großen Pause manchmal in sein Auto verzog, um dort rauchen zu können.
Die Ermittlung konzentrierte sich immer noch auf das engste Umfeld des Jungen, die Schule und das Viertel. Es hatte sich herausgestellt, dass ein mehrfach verurteilter Straftäter unweit des Wohnblocks lebte, in den Sunee mit ihren Söhnen eingezogen war. Man hatte ihn morgens zu einem Verhör ins Dezernat gebracht, aber da er sturzbetrunken war, griff er einen Polizeibeamten an und wurde kurzerhand in eine Zelle gesteckt. Gegen Morgen hatte man einen Hausdurchsuchungsbefehl erwirkt, aber in der Wohnung des Mannes hatte man bislang noch nichts finden können, was mit dem Mord an Elías in Verbindung gebracht werden konnte. Die Polizei knöpfte sich auch einige andere Personen vor, denen ein Überfall mit einem Messer zuzutrauen war, Geldeintreiber und solche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, weil sie sich mit Zuwanderern und sogar mit Touristen angelegt hatten.
Niran hatte, seit er gefunden worden war, noch keine Aussage gemacht. In der Nacht wurde ein Jugendpsychiater hinzugezogen und ein Experte vom Jugendamt, aber Niran saß nur, in eine Decke gewickelt, da und schwieg. Man stellte ihm wieder und wieder dieselben Fragen, wo er den ganzen Tag gewesen wäre, ob er etwas über das Schicksal seines Bruders wüsste. Ob er wüsste, was geschehen war und wer zu einer solchen Tat fähig sein könnte; wann er seinen Bruder zuletzt gesehen habe, über was sie geredet hätten. Mit solchen Fragen wurde Niran überhäuft, nicht zuletzt auch von seiner Mutter, aber Niran öffnete den Mund nicht, sondern saß schweigend da und starrte vor sich hin. Er schien sich in andere Welt zurückgezogen zu haben, in eine Sicherheit hinein, die nur er kannte.
Nach einer Weile beförderte Erlendur das Sachverständigenteam hinaus und fuhr ebenfalls nach Hause, damit Sunee und Niran zur Ruhe kommen konnten. Sigríður, die ehemalige Schwiegermutter, war bereits gegangen, und auch die Dolmetscherin machte sich auf den Weg. Sunees Bruder war als Einziger noch geblieben.
Die Tatsache, dass Sunee einen Freund hatte, schien geheim gehalten worden zu sein. Als Erlendur die Dolmetscherin danach fragte, hatte sie keine Ahnung, worauf er anspielte, und erklärte, nie von einem neuen Mann gehört zu haben. Das Gleiche sagte die Schwiegermutter. Sie fiel aus allen Wolken. Erst als Erlendur den Bruder Virote darauf ansprach, erhielt er eine Reaktion. Er wusste von einem Mann im Leben seiner Schwester, aber die Beziehung bestand seinen Worten zufolge noch nicht sehr lange. Er hatte den Mann auch noch nie getroffen und wusste nicht, wer er war. Erlendur wollte Sunee nicht gleich damit behelligen, nachdem sie ihren Sohn wiedergefunden hatte, aber er bat Virote, sie nach diesem Mann zu fragen und sich dann mit ihm in Verbindung zu setzen. Virote hatte sich jedoch bis jetzt noch nicht gemeldet.
Erlendur hatte keine Mühe, das metallicgraue Auto des Werklehrers zu finden. Er klopfte an die Scheibe auf der Fahrerseite, und der Mann ließ das Fenster herunter. Die Zigarette, die er zwischen den Fingern hielt, qualmte in die Winterluft hinaus.
»Darf ich mich einen Augenblick zu dir ins Auto setzen?«, fragte Erlendur. »Ich bin von der Kriminalpolizei.«
Der Werklehrer grunzte und sah sich gezwungen, zustimmend zu nicken, da er sich wohl kaum weigern konnte, mit Erlendur zu reden. Offensichtlich hatte er etwas dagegen, in seiner Zigarettenpause gestört zu werden. Erlendur ließ sich dadurch nicht beirren, sondern setzte sich auf
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