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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Oberbett, lange, schmale Finger mit langen, nikotingelben, nicht manikürten Nägeln. Es waren bereits einige Tage vergangen, ohne dass jemand zu Besuch gekommen war. Erlendur hatte sich eigens danach erkundigt. Wahrscheinlich würde auch niemand zur Beerdigung kommen, überlegte er. Marian Briem war immer alleinstehend gewesen und hatte nie etwas anderes sein wollen. Bei nicht wenigen Besuchen in den letzten Jahren hatte Erlendur über seine eigene Zukunft, das Alleinsein und die Vereinsamung nachgedacht. Marian Briem hatte sich lange Zeit als eine Art Gewissen von Erlendur betrachtet und war nicht müde geworden, Erlendur über seine Privatangelegenheiten auszufragen, vor allem die Scheidung und die Verbindung zu seinen Kindern, die er einfach zurückließ, ohne sich um sie zu kümmern, kamen immer wieder zur Sprache. Erlendur verspürte zwar eine gewisse Achtung vor Marian, aber nichtsdestoweniger nervte ihn diese Neugier. Nicht selten waren zwischen ihnen die Fetzen geflogen. Marian Briem, Erlendurs Boss während der ersten Jahre, in denen er eine harte Schule durchlief, war der Meinung, eine besondere Beziehung zu ihm zu haben und Einfluss auf seine Entwicklung gehabt zu haben, nachdem er bei der Kripo angefangen hatte.
    »Willst du nicht endlich was im Hinblick auf deine Kinder unternehmen?«, hatte Marian ihn einmal mit sehr vorwurfsvollem Unterton gefragt.
    Das hatte sich in einer dunklen Kellerwohnung zugetragen, in der es eine Auseinandersetzung zwischen drei Seeleuten gegeben hatte, die eine Woche auf Sauftour gewesen waren. Einer von ihnen hatte ein Messer gezückt und dreimal auf seinen Kumpel eingestochen, weil der etwas Beleidigendes über seine Freundin gesagt hatte. Der Mann wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo er seinen Verletzungen erlag. Die beiden anderen landeten im Untersuchungsgefängnis. Am Tatort war überall Blut. Der Mann war fast verblutet, während seine beiden Kumpels weitergesoffen hatten. Am nächsten Morgen sah die Zeitungsfrau durchs Kellerfenster, dass da ein Mensch in seinem Blut lag, und sie verständigte die Polizei. Die beiden anderen Männer hatten weitergesoffen, bis sie umfielen, und als sie geweckt wurden, hatten sie nicht die geringste Ahnung, was passiert war.
    »Ich tu, was ich kann«, sagte Erlendur, während er auf eine Blutlache am Boden starrte. »Misch dich da nicht ein.«
    »Irgendjemand muss das aber tun«, erklärte Marian Briem. »Du kannst mir doch nicht sagen, dass du dich in der gegenwärtigen Situation wohlfühlst.«
    »Es geht dich nichts an, wie es mir geht«, beharrte Erlendur.
    »Es geht mich etwas an, wenn es sich auf deine Arbeit auswirkt.«
    »Es wirkt sich nicht auf meine Arbeit aus. Ich finde schon eine Lösung. Mach dir darüber keine Gedanken.«
    »Glaubst du, dass aus ihnen etwas wird?«
    »Aus wem?«
    »Aus deinen Kindern?«
    »Hör doch endlich auf damit«, sagte Erlendur und starrte auf das Blut.
    »Du solltest mal darüber nachdenken, wie es ist, ohne Vater aufzuwachsen.«
    Auf dem Tisch lag das blutige Messer.
    »Kein schwierig zu lösender Fall«, erklärte Marian.
    »Die gibt’s nur selten in dieser Stadt«, sagte Erlendur.
    Und jetzt stand er vor dem ausgemergelten Körper und wusste, was er seinerzeit nicht gesehen hatte: dass Marian Briem ihm zu helfen versucht hatte.
    Erlendur hatte selber keine plausible Erklärung dafür, weshalb er bei der Scheidung zwei Kinder zurückließ und so gut wie keinen Versuch machte, auf seinem Umgangsrecht zu bestehen.
    Seine Exfrau hasste ihn und schwor heilige Eide, dass er seine Kinder nie wieder zu Gesicht bekommen würde, nicht einen einzigen Tag, und er unternahm keine großen Anstrengungen dagegen. Später jedoch, als er herausfand, in welchem Zustand seine beiden Kinder waren, bereute er diese Unterlassung mehr als alles andere in seinem Leben.
    Marian Briem öffnete langsam die Augen und sah Erlendur am Fußende stehen.
    Erlendur fielen die Worte seiner Mutter über einen alten Verwandten ein, der im Sterben lag. Sie hatte ihn besucht und an seinem Bett gesessen. Als sie nach Hause kam, hatte sie darüber gesprochen, dass er so seltsam ausgezehrt gewesen sei.
    »Erlendur, liest du mir etwas vor?«
    »Selbstverständlich«, sagte Erlendur.
    »Deine Geschichte«, sagte Marian, »und die deines Bruders.«
    Erlendur schwieg.
    »Du hast … mir irgendwann mal … gesagt, dass es sie gibt … in deinen Katastrophenbüchern.«
    »Es gibt sie«, bestätigte Erlendur.
    »Liest … du … sie mir

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