Frostnacht
vor?«
In diesem Augenblick klingelte Erlendurs Handy. Marian sah zu ihm hoch. Die Rufton-Melodie hatte Elínborg an einem Regentag, als sie beim Amtsgericht warten mussten, für ihn ausgewählt, die Anfangstöne der Neunten von Beethoven. Die
Ode an die Freude
erfüllte das Sterbezimmer. »Wo kommt diese Musik her?«, fragte Marian und klang wie weggetreten von den starken Schmerzmitteln.
Als es Erlendur endlich gelang, das Telefon aus seiner Jackentasche zu fischen, verstummte die Ode.
»Ja, hallo«, sagte Erlendur.
Er hörte, dass jemand am anderen Ende der Leitung war, aber es kam keine Antwort.
»Hallo«, sagte er noch einmal, lauter.
Keine Antwort.
»Wer ist da?«
Er war im Begriff, das Gespräch abzubrechen, als am anderen Ende der Leitung aufgelegt wurde.
»Das mach ich«, sagte Erlendur, »ich lese dir die Geschichte vor.«
»Ich hoffe bloß … dass … dass das hier bald … ein Ende nimmt«, sagte Marian Briem. Die Stimme war heiser und zitterte ein wenig wegen der Anstrengung, die das Sprechen kostete. »Es ist … kein Vergnügen … das hier …«
Erlendur musste lächeln. Wieder begann das Telefon zu klingeln.
Ode an die Freude.
»Ja«, sagte er.
Keine Antwort.
»Was soll denn dieser Blödsinn?«, stieß Erlendur hervor. »Wer ist am Apparat?«
Immer noch Schweigen in der Leitung.
»Wer ist da?«, wiederholte Erlendur.
»Ich …«
»Ja? Hallo?«
»O Gott, ich kann nicht«, sagte eine weibliche Stimme an seinem Ohr.
Erlendur erschrak, als er die Verzweiflung in der Stimme hörte. Zunächst glaubte er, es sei seine Tochter. Sie hatte ihn einmal in höchster Not angerufen und um Hilfe gebeten. Aber das hier war nicht Eva.
»Wer ist denn da?«, fragte Erlendur und war sehr viel entgegenkommender, als er hörte, dass die Frau am anderen Ende der Leitung weinte.
»O Gott«, sagte sie wieder, und es hörte sich so an, als sei sie nicht imstande, einen Satz auf die Reihe zu bringen.
Eine Weile herrschte Schweigen in der Leitung.
»So kann es nicht weitergehen«, sagte sie dann und legte wieder auf.
»Was? Hallo?«
Erlendur rief ins Telefon, hörte aber nur das Besetztzeichen. Er kontrollierte die Rufnummernanzeige, doch da war keine neue Nummer zu sehen. Er sah, dass Marian Briem wieder eingeschlafen war. Sein Blick fiel wieder auf das Handy, und urplötzlich sah er vor seinem inneren Auge das blauweiße Antlitz einer Frau, die von den Wellen gewiegt wurde und mit toten Augen zu ihm hochstarrte.
Elf
Erlendur befand sich im Verhörzimmer und war in Gedanken bei dem Anruf, den er im Krankenhaus erhalten hatte.
O Gott, ich kann nicht
, erklang die schwache Stimme wieder und wieder in seinem Kopf. Der Gedanke ließ ihn nicht los, dass die Frau, die kurz vor Weihnachten verschwunden war, sich nach all dieser Zeit zum ersten Mal gemeldet hatte. Seine Handynummer hätte sie ohne Schwierigkeiten in der Telefonzentrale der Polizei erhalten können, es war sein Diensttelefon. Sein Name tauchte immer wieder im Zusammenhang mit Ermittlungen in den Medien auf, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Verschwinden der Frau und jetzt mit Elías’ Tod. Da Erlendur die Stimme der Frau nicht kannte, konnte er nicht entscheiden, ob sie es gewesen war. Er hatte vor, bei nächster Gelegenheit mit dem Ehemann zu reden.
Er erinnerte sich, einmal gelesen zu haben, dass nur fünf Prozent der Ehen oder Verbindungen, die mit einem Ehebruch begannen, für den Rest des Lebens hielten. Er fand nicht, dass das ein hoher Prozentsatz war. Und seine Gedanken kreisten darum, dass es wohl schwierig war, eine vertrauensvolle Beziehung zu jemandem aufzubauen, wenn man zuvor einen anderen betrogen hatte. Möglicherweise war Betrug aber auch ein zu hartes Wort. Vielleicht hatten sich die früheren Beziehungen dieser Menschen gewandelt, und im entscheidenden Moment war eine neue Liebe erwacht. So etwas kam vor, das hatte es schon immer gegeben. Wenn man den Aussagen ihrer besten Freunde Glauben schenken durfte, war die vermisste Frau überzeugt gewesen, die wahre Liebe gefunden zu haben. Sie war dem neuen Mann von ganzem Herzen zugetan.
Das gaben diese Freunde, mit denen sie auch nach der Scheidung Kontakt hielt, besonders deutlich zu verstehen, als Erlendur nach Erklärungen für das Verschwinden suchte. Sie verließ ihren Ehemann, und es gab eine große Hochzeit mit dem anderen. Sie wurde als ausgesprochen rationaler Mensch beschrieben, doch so jemand konnte wie verwandelt sein, wenn auf einmal Gefühle ins Spiel
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