Frostnacht
aufgefunden worden war. Sie ging auf die Ermittlung ein und bat die Dolmetscherin, diese Informationen an die Mutter weiterzugeben.
»Ein Bruder von ihr lebt hier in Island«, sagte die Dolmetscherin. »Ich werde mich an ihn wenden.«
»Kennst du diese Frau?«, fragte Elínborg.
Die Dolmetscherin nickte.
»Bist du in Thailand gewesen?«
»Ja, einige Jahre. Ich war zuerst als Austauschschülerin dort.«
Die Dolmetscherin hieß Guðný. Sie war relativ klein, hatte dunkle Haare und trug eine große Brille. Sie hatte Jeans und einen dicken Pullover an, darüber einen schwarzen Mantel. Um die Schultern hatte sie ein weißes Wolltuch gelegt.
Als sie wieder vor dem Wohnblock eintrafen, wollte die Mutter die Stelle sehen, wo ihr Sohn aufgefunden worden war, und sie gingen mit ihr hinters Haus. Inzwischen war es stockfinster geworden, doch die Leute von der Spurensicherung hatten Scheinwerfer aufgestellt und das Gelände abgesperrt. Die Nachricht von dem Mord hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Elínborg bemerkte zwei Blumensträuße am Giebel des Hauses, vor dem sich immer mehr Leute versammelt hatten. Sie standen bei den Polizeiautos und verfolgten schweigend das Geschehen mit.
Als die Mutter das abgesperrte Gelände betrat, unterbrachen die Mitarbeiter der Spurensicherung ihre Arbeit und sahen sie an. Als sie mit der Dolmetscherin zu der Stelle gekommen war, wo man ihren Sohn gefunden hatte, begann sie wieder zu weinen. Sie kniete sich hin und legte die Hand auf die Erde.
Erlendur war immer noch am Tatort. Er hatte sie beobachtet und trat jetzt aus dem Dunkel heraus.
»Wir sollten jetzt mit ihr hinauf in die Wohnung gehen«, sagte er zu Elínborg, die zustimmend nickte.
Sie standen aber noch eine ganze Weile in der Kälte und warteten, bis die beiden Frauen sich von der Stelle abwandten. Elínborg und Erlendur folgten ihnen zu dem Treppenaufgang, zur Wohnung der Mutter. Elínborg stellte ihr Erlendur vor und sagte, er gehöre zu dem Team, das mit der Ermittlung befasst sei.
»Du würdest wahrscheinlich lieber später mit uns reden«, sagte Erlendur, »aber je früher wir die Informationen bekommen, desto besser, das ist leider eine Tatsache. Je mehr Zeit verstreicht, desto schwieriger wird es, den Täter zu finden.«
Erlendur machte eine Pause und bedeutete der Dolmetscherin, seine Worte zu übersetzen. Er war im Begriff fortzufahren, als die Mutter ihn ansah und etwas auf Thailändisch sagte.
»Wer hat das getan?«, fragte die Dolmetscherin fast gleichzeitig.
»Wir wissen es nicht«, sagte Erlendur, »aber wir werden es herausfinden.«
Die Mutter wandte sich mit angsterfüllter Miene der Dolmetscherin zu und sagte etwas.
»Sie hat noch einen Sohn und macht sich Sorgen, wo er ist«, sagte die Dolmetscherin.
»Hat sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«, fragte Erlendur.
»Nein«, sagte die Dolmetscherin. »Er hätte um die gleiche Zeit aus der Schule zurück sein müssen wie sein jüngerer Bruder.«
»Er ist also älter?«
»Fünf Jahre älter«, erklärte die Dolmetscherin.
»Dann ist er wie alt?«
»Fünfzehn.«
Die Mutter ging rasch vor ihnen die Treppen in den fünften Stock hinauf, den zweitobersten. Erlendur war erstaunt, dass es keinen Aufzug gab.
Sunee schloss die Wohnungstür auf und begann zu rufen, noch bevor die Tür ganz auf war. Erlendur vermutete, dass es der Name ihres anderen Sohnes war. Sie rannte durch die Wohnung und sah gleich, dass niemand zu Hause war. Ratlos und seltsam allein blieb sie vor ihnen stehen, bis die Dolmetscherin den Arm um sie legte, sie ins Wohnzimmer führte und sich mit ihr aufs Sofa setzte. Elínborg und Erlendur folgten ihnen, und direkt im Anschluss betrat ein schlanker Mann den Raum, der die Treppe im Laufschritt genommen hatte. Er stellte sich Erlendur als Pastor der Gemeinde und als Sachverständiger in Krisenhilfe vor und bot seine Hilfe an.
»Wir müssen diesen Bruder finden«, sagte Elínborg. »Hoffentlich ist ihm nicht auch etwas zugestoßen.«
»Hoffentlich war er es nicht, der dafür verantwortlich ist«, sagte Erlendur.
Elínborg blickte ihn befremdet an.
»Was dir nicht alles in den Sinn kommt!«
Sie schauten sich in der Wohnung von Sunee um, die aus drei Zimmern bestand. Aus der Diele trat man direkt ins Wohnzimmer, von dort führte ein kleiner Korridor nach rechts zu zwei Schlafzimmern, während die Küche sich neben dem Wohnzimmer befand. Die Wohnung war sauber und ordentlich, und es roch nach asiatischen Gewürzen und
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