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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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exotischer Küche. Überall hingen Fotos an den Wänden oder waren auf den Tischen aufgestellt. Erlendur ging davon aus, dass es sich um die Verwandten der Mutter auf der anderen Seite des Erdballs handelte.
    Erlendur stand unter einem roten Papierschirm mit einem gelben Drachen darauf, der als Lampenschirm unter der Decke befestigt war. Als die Dolmetscherin erklärte, einen Tee kochen zu wollen, folgte Elínborg ihr in die Küche. Sunee setzte sich aufs Sofa. Erlendur schwieg unterdessen und wartete darauf, dass die Dolmetscherin aus der Küche zurückkehren würde. Der Priester setzte sich zu Sunee aufs Sofa.
    In der Küche erzählte Guðný Elínborg halblaut das, was sie über Sunee wusste. Sie stammte aus einem Dorf, das etwa zweihundert Kilometer von Bangkok entfernt war. In ihrem elterlichen Zuhause hatten drei Generationen sehr beengt unter einem Dach zusammengelebt. Sie hatte viele Geschwister, und im Alter von fünfzehn Jahren war Sunee zusammen mit zwei Brüdern in die Hauptstadt gezogen, wo sie schwer arbeiten musste, die meiste Zeit in Wäschereien. Sie lebte mit ihren Brüdern auf engstem Raum in einer primitiven Unterkunft zusammen, bis sie fast zwanzig war. Danach war sie auf sich selbst angewiesen gewesen, und sie hatte in einer großen Schneiderei gearbeitet, wo billige Kleidung für den westlichen Markt produziert wurde. Dort waren nur Frauen beschäftigt, und die Löhne waren niedrig. Um diese Zeit hatte sie in einem populären Vergnügungslokal in Bangkok einen Mann aus einer ganz anderen Welt kennengelernt, einen Isländer, der einige Jahre älter war als sie. Von Island hatte sie zu dem Zeitpunkt noch nie in ihrem Leben etwas gehört.
    Während die Dolmetscherin Elínborg diese Geschichte erzählte und der Pastor tröstende Worte murmelte, ging Erlendur im Wohnzimmer auf und ab. Die Wohnung strahlte einen fernöstlichen Charme aus. In der Mitte der einen Wand befand sich ein kleiner Altar mit Schnittblumen, Räucherstäbchen, einer Schale mit Wasser und einem schönen Bild von einer ländlichen Gegend in Thailand. Seine Blicke schweiften über den Nippes, die Souvenirs und die eingerahmten Fotos, von denen einige zwei Jungen unterschiedlichen Alters zeigten. Erlendur vermutete, dass es der Tote und sein Bruder waren. Er griff nach einem Foto, von dem er annahm, dass es den älteren der Brüder zeigte, und fragte Sunee, ob das richtig sei. Sie nickte. Er bat sie, es für kurze Zeit ausleihen zu dürfen, brachte es zu dem Polizisten an der Tür und wies ihn an, das Foto zu vervielfältigen und an alle Polizeireviere zu schicken, um die Suche nach dem Jungen in die Wege zu leiten, und seine Schulkameraden, seine Lehrer und die Nachbarn zu befragen.
    Erlendur hatte gerade sein Handy aus der Tasche geholt, als es prompt klingelte. Es war Sigurður Óli.
    Er war der Blutspur, die der Junge hinterlassen hatte, gefolgt. Sie hatte ihn aus dem Garten heraus auf eine wenig befahrene Straße geführt, vorbei an Häusern und Gärten, und endete vor der Wand eines kleinen Transformatorenhäuschens, das mit Graffiti beschmiert war, etwa fünfhundert Meter von dem Wohnblock entfernt, in dem der Junge lebte. Ganz in der Nähe war auch seine Schule. Auf den ersten Blick hatte Sigurður Óli keinerlei Anzeichen eines Kampfes erkennen können. Die eintreffenden Polizisten nahmen in den umliegenden Gärten, auf Gehwegen, Straßen und dem Schulhof mit Taschenlampen die Suche nach der Mordwaffe auf.
    »Halt mich auf dem Laufenden«, sagte Erlendur. »Von da aus ist es nicht weit zur Schule, sagst du?«
    »Sie liegt eigentlich gleich daneben. Aber selbst wenn die Blutspur hier endet, muss das ja nicht bedeuten, dass der Stich dem Jungen hier beigebracht worden ist.«
    »Ich weiß«, entgegnete Erlendur. »Unterhalte dich mit den Leuten in der Schule, mit dem Rektor und den anderen Lehrern. Wir müssen mit den Lehrern des Jungen und mit seinen Klassenkameraden reden. Ebenso mit seinen Freunden hier im Viertel, mit allen, die ihn kannten oder uns etwas über ihn sagen können.«
    »Es ist meine alte Schule«, sagte Sigurður Óli und klang etwas flau.
    »Tatsächlich?«, fragte Erlendur verwundert, denn Sigurður Óli vermied es möglichst, über sich selbst zu sprechen. »Bist du in diesem Viertel aufgewachsen?«
    »Bin seitdem aber kaum je wieder hier gewesen«, sagte Sigurður Óli. »Wir haben nur zwei Jahre hier gewohnt, dann sind wir weggezogen.«
    »Und?«
    »Und nichts.«
    »Glaubst du, dass sich die älteren

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