Frostnacht
zurückschrecken.«
»Ich habe nicht das Geringste damit zu tun«, sagte Guðný. »Ich bin nicht zurückgekommen und habe sie geholt. Und komm mir bloß nicht mit Drohungen. Falls du vorhast, mich ›in Gewahrsam nehmen‹ zu lassen, dann tu’s doch!«
»Wir brauchen ein paar Erklärungen von dir«, sagte Sigurður Óli, der inzwischen eingetroffen war und ihr Gespräch gehört hatte. »Du hast als Letzte mit ihnen gesprochen. Weshalb haben sie sich abgesetzt?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, stöhnte Guðný. »Ich war genauso überrascht wie ihr, als mich die Polizei verständigt hat. Als ich sie vor so etwa …«, sie schaute auf ihre Armbanduhr, um sich zu vergewissern, »… vor etwa einer Dreiviertelstunde verließ, deutete nichts darauf hin, dass Sunee wegwollte. Sie sagte bloß, dass sie ein paar Sachen aus dem Lebensmittelladen brauche. Ich musste zu einer Besprechung und war schon viel zu spät dran. Der Polizist war so liebenswürdig, ihr zu helfen. Ich hatte keinen Verdacht, dass sie uns austricksen wollte, davon hat sie nichts gesagt. Mir ist es egal, ob ihr mir glaubt oder nicht, aber ich wusste wirklich nichts davon.«
»Weißt du, wohin sie gegangen sein könnten?«, fragte Sigurður Óli.
»Nein, keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal, ob sie sich tatsächlich verstecken. Vielleicht kommt sie ja gleich zurück und ist nur kurz mal weg gewesen. Vielleicht versteckt sie sich ja gar nicht. Habt ihr das überhaupt in Erwägung gezogen?«
»Hat sie heute Morgen mit jemandem telefoniert?«, fragte Sigurður Óli.
Guðný berichtete ihnen, dass sie morgens früh zu Sunee gekommen war. Als sie eintraf, stand der Polizist vor der Tür, und in einem Streifenwagen auf dem Parkplatz des Hauses saßen zwei weitere Polizeibeamte. Etwas später fuhr der Streifenwagen weg. Sunee hatte gleich damit angefangen, dass sie und Niran in Ruhe gelassen werden wollten, weil es dem Jungen nicht gut ging. Sie hatte ihn noch nicht zum Sprechen gebracht, und wenn sie das nicht schaffte, würde es weder den Polizisten noch einem von diesen Sachverständigen gelingen. Sie bräuchte jetzt Zeit mit Niran allein, um ihn aus seiner Abkapselung herauszuholen. Der Tod seines Bruder hatte ihm offensichtlich einen furchtbaren Schock versetzt, und sie wollte ihm helfen, so gut sie es vermochte. Guðný hatte eine Weile mit ihnen zusammengesessen und ihre Hilfe angeboten. Als Sunee hörte, dass Guðný wieder wegwollte, begann sie, darüber zu reden, dass sie etwas einkaufen müsse.
»Wusste sie, dass der Streifenwagen nicht mehr da war?«, fragte Erlendur.
»Ja, sie hat gesehen, wie er losfuhr.«
»Wo ist dieser verdammte Wagen eigentlich hin?«, wollte Erlendur von Sigurður Óli wissen, der die Antwort auch parat hatte. Der Wagen war wegen eines schweren Verkehrsunfalls an einer viel befahrenen Kreuzung ein paar Straßen weiter wegbeordert worden, weil er am nächsten beim Unfallort war. Man war davon ausgegangen, dass er für einen kurzen Einsatz zu entbehren war.
Erlendur schüttelte verständnislos den Kopf.
»Wo lebt Sunees Freund?«, fragte er Guðný.
»Ich habe euch bereits gesagt, dass mir nichts über einen Freund bekannt ist«, erklärte Guðný zögernd.
»Könnte es sein, dass sie bei ihm Zuflucht sucht?«, sagte Erlendur.
»Viele Zufluchtsmöglichkeiten scheint sie ja nicht zu haben«, mischte sich Sigurður Óli ein.
»Wer ist dieser Mann?«, fragte Erlendur und warf Sigurður Óli einen ärgerlichen Blick zu. Er hatte manchmal die Angewohnheit, sich einzumischen, und das ging Erlendur auf die Nerven.
»Ich weiß nichts von einem Freund«, wiederholte Guðný. »Vielleicht sind sie ja bei ihrer ehemaligen Schwiegermutter. Habt ihr das schon überprüft? Oder bei ihrem Bruder.«
»Das werden wir als Erstes kontrollieren.«
In diesem Augenblick kam Elínborg herein.
»Wie können sie denn verschwunden sein?!«, fragte sie. »Wurde das Haus hier nicht überwacht?«
»Sie hat Angst«, erklärte Guðný. »Wer würde an ihrer Stelle keine Angst haben? Der Grund für ihr Verschwinden kann nur der sein, dass sie ihren Sohn, der noch am Leben ist, schützen will. An etwas anderes kann sie im Augenblick gar nicht denken, das liegt auf der Hand. Sie vertraut nur auf sich selbst, so, wie sie es schon immer tun musste.«
»Warum hat sie kein Vertrauen zu uns?«, fragte Elínborg. »Hat sie einen Grund dafür, misstrauisch zu sein?«
Guðný blickte sie an. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich habe
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