Frostnacht
vergangen hat, ist er auf jeden Fall etwas älter als er«, sagte Erlendur. »Ich weiß nicht, er könnte vielleicht heute so zwischen sechzig und siebzig sein. Irgendwie glaube ich aber nicht, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der Kinder missbraucht, das sind keine Mörder. Zumindest nicht im wörtlichen Sinne.«
Es war der zweite Tag der Ermittlung, und die Informationen, die ihnen vorlagen, reichten nicht aus, um irgendwelche Schlüsse daraus ziehen zu können. Niemand hatte sich gemeldet, der Elías an diesem Tag gesehen hatte. Das Transformatorenhäuschen, neben dem auf ihn eingestochen worden war, befand sich an einem Fußweg, der sich wegen der gegenüberliegenden Garagen verengte. Von den obersten Wohnungen der Häuser in der Nähe war der Tatort einsehbar, und die Polizei hatte festgestellt, wer die Inhaber waren, aber keiner hatte etwas Ungewöhnliches oder Verdächtiges bemerkt. Im Übrigen war auch kaum jemand zu der Zeit zu Hause gewesen, als der Überfall stattgefunden hatte.
Erlendurs Aufmerksamkeit richtete sich auf die Schule. Elínborg berichtete ihnen davon, dass Niran auf der früheren Schule zu einer Gruppe von Einwandererkindern gehört hatte, die oft in Auseinandersetzungen verwickelt gewesen war. Das sei in der neuen Schule nicht anders gewesen. Erlendur wies auf die Clique hin, von der einer der Schüler behauptet hatte, sie hingen bei der Apotheke herum und würden manchmal Streit mit anderen Mitschülern vom Zaun brechen.
»Und dann haben wir noch einen Päderasten und einen Rückfalltäter und einen isländischen Freund«, warf Sigurður Óli ein. »Und nicht zu vergessen einen Lehrer mit ausländerfeindlicher Einstellung, der in der Schule böses Blut macht. Super Kombination.«
Es war klar, dass Niran ein wichtiger Zeuge in dem Fall sein musste. Die Tatsache, dass er mithilfe seiner Mutter geflohen war und sich versteckt hielt, unterstrich das noch mehr. Er war ihnen auf die denkbar dümmste Weise entwischt. Erlendur erging sich wortreich darüber und drückte sich nicht sehr gewählt aus. Er gab sich selber die Schuld daran, wie es gelaufen war, und niemand anderem.
»Wie hätten wir das vorhersehen können?«, widersprach Elínborg, der es jetzt reichte. »Sunee zeigte sich sehr kooperationsbereit. Es gab nichts, was darauf hindeutete, dass sie so etwas Verrücktes tun würde.«
»Wir müssen uns sofort den Vater, die Schwiegermutter und den Bruder vorknöpfen«, sagte Sigurður Óli. »Das sind die Menschen, die ihr nahestehen, die Leute, die ihr helfen würden.«
Erlendur sah die beiden an. »Ich glaube, die Frau hat mich heute angerufen«, sagte er nach einer Weile.
»Die Frau, die vermisst wird?«, fragte Elínborg.
»Ich glaube, ja«, sagte Erlendur und berichtete ihnen von dem Anruf, den er im Krankenhaus bei Marian Briem erhalten hatte. »Sie hat nur gesagt:
So kann es nicht weitergehen
, und dann aufgelegt.«
»So kann es nicht weitergehen?«, wiederholte Elínborg, »So kann es nicht weitergehen. Was meint sie damit?«
»Falls es denn diese Frau ist«, sagte Erlendur. »Allerdings weiß ich nicht, wer es sonst gewesen sein könnte. Das heißt wohl, ich muss wieder mal zu dem Ehemann, um ihm mitzuteilen, dass sie möglicherweise noch am Leben ist. Er hat die ganze Zeit nichts von ihr gehört, und jetzt ruft sie mich an. Möglicherweise weiß er ja auch, was da abgeht. Was mag das bedeuten:
So kann es nicht weitergehen
? Es hört sich beinahe so an, als würden die beiden da gemeinsam etwas drehen. Könnte es sein, dass sie beide hinter der Sache stecken und uns gemeinsam hinters Licht führen?«
»Hatte sie eine Lebensversicherungspolice mit hoher Prämie?«, fragte Sigurður Óli.
»Nein«, antwortete Erlendur, »so etwas steckt nicht dahinter. Das ist kein Hollywoodschinken.«
»Hast du ihn in Verdacht, dass er sie umgebracht hat?«, fragte Elínborg.
»Sie sollte nicht am Leben sein, diese Frau«, sagte Erlendur. »Nichts deutet auf etwas anderes hin, als dass sie sich umgebracht hat. Dieser Anruf passt überhaupt nicht zu dem, was wir bisher erfahren haben.«
»Was wirst du ihrem Mann sagen?«, fragte Elínborg.
Erlendur hatte darüber bereits nachgedacht, seit er den Anruf erhalten hatte. Seine eh schon schlechte Meinung von dem Ehemann war nur noch negativer geworden, je mehr über ihn ans Licht gekommen war. Er schien ein Typ zu sein, der nicht genug kriegen konnte, anders konnte man es nicht ausdrücken. Fremdzugehen schien eine Obsession von ihm
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