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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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eigenen Henker«, erklärte Andrés. »Er hat mich aber nicht gesehen. Er weiß nicht, dass ich von ihm weiß. Ich hab herausgefunden, wo er wohnt.«
    »Wo ist das? Wo wohnt er, und wer ist dieser Mann?« Sigurður Óli bombardierte Andrés mit Fragen, aber der saß unbeweglich auf seinem Stuhl und sah Sigurður Óli an, als hätte er mit all dem überhaupt nichts zu tun.
    »Kann sein, dass ich ihn eines Tages besuchen gehe und Hallo sage«, erklärte Andrés. »Ich denke, ich würde es heute mit ihm aufnehmen können. Ich wäre wahrscheinlich stärker als er.«
    »Aber du müsstest dir erst Mut antrinken«, warf Erlendur ein.
    Darauf erhielt er keine Antwort.
    »Und früher musstest du dich immer verstecken?«
    »Ich habe mich immer versteckt. Du solltest ja am besten wissen, dass ich darin ganz schön clever bin. Ich hab immer wieder neue Verstecke gefunden und versucht, mich so unsichtbar wie möglich zu machen.«
    »Glaubst du, dass er dem Jungen was angetan haben kann?«, fragte Erlendur.
    »Vielleicht hat er ja damit aufgehört, ich weiß es nicht. Wie gesagt, ich hab ihn all die Jahre nicht gesehen, und jetzt ist er auf einmal sozusagen mein Nachbar. Urplötzlich geht er auf der anderen Straßenseite an meinem Haus vorbei. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich wirklich gesehen habe, als er da entlangging. Ich meine hier oben«, sagte Andrés und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.
    »Könnte es sein, dass wir ihn irgendwo in unseren Karteien gespeichert haben?«, fragte Erlendur.
    »Das bezweifle ich.«
    »Wirst du uns sagen, wo wir ihn finden können?«, fragte Sigurður Óli.
    Andrés antwortete ihm nicht.
    »Wer ist dieser Mann?«, fragte Sigurður Óli und versuchte es mit einer neuen Methode. »Wir können dir dabei helfen, ihn zu fassen zu kriegen, wenn du Anzeige erstatten willst. Wir können ihn mit deiner Hilfe einbuchten. Willst du das? Willst du uns sagen, wo er ist, damit wir ihn hinter Schloss und Riegel bringen können?«
    Andrés lachte ihm ins Gesicht.
    »Das is ja ’ne originelle Type«, sagte er, zu Erlendur gewandt. Dann hörte er plötzlich auf zu lachen und lehnte sich zu Sigurður Óli hinüber.
    »Wer würde denn einer verkrachten Existenz wie mir glauben?«
    Erlendurs Handy meldete sich, und die
Ode an die Freude
erklang im Verhörzimmer. Erlendur beeilte sich, das Telefon zu finden. Der Rufton nervte ihn. Er drückte auf die Antworttaste. Sigurður Óli beobachtete ihn. Erlendurs Gesicht verfinsterte sich beim Zuhören. Er beendete das Gespräch abrupt und sprang leise fluchend auf.
    »Verdammt noch mal, wo soll das noch enden«, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und stürmte aus dem Zimmer.
    Der Polizist hatte Verdacht geschöpft, als er wieder zum Wohnblock zurückgekehrt war. Die Dolmetscherin war im Auto weggefahren und hatte ihn gebeten, Milch und Brot für die thailändische Frau und den Jungen zu kaufen, die allein in der Wohnung zurückgeblieben waren. Er war seit zwei Jahren bei der Polizei und fand die Arbeit nicht unangenehmer als vieles andere. Er hatte sich mit Schlägereien im Stadtzentrum befassen müssen, wenn am Wochenende das Nachtleben voll im Gange war. Er hatte entsetzliche Unfälle mit Todesopfern gesehen. So etwas erschütterte ihn aber nicht sonderlich. Man zählte ihn zum hoffnungsvollen Nachwuchs, und er hatte vor, es bei der Polizei zu etwas zu bringen. Jetzt war es seine Aufgabe, die Tür der Thailänderin zu bewachen. Den ganzen Morgen waren Sachverständige die Treppe zu ihr nach oben marschiert, die er zuvor nach Namen, Stellung und Zweck des Besuchs befragt hatte. Er ließ alle herein, aber sie kamen fast genauso schnell wieder herunter. Die Thailänderin wollte mit ihrem Sohn in Ruhe gelassen werden, das verstand er gut. Sie machte Furchtbares mit.
    Dann war auf einmal die Dolmetscherin im Laufschritt nach unten gekommen, hatte ihm einen Tausendkronenschein in die Hand gedrückt und ihn gebeten, ein paar Sachen für Mutter und Sohn einzukaufen. Er protestierte gutmütig, schüttelte lächelnd den Kopf und erklärte, seinen Posten nicht verlassen zu dürfen. Es täte ihm leid, es ginge nicht. Er sei Polizist, kein Laufbursche.
    »Es dauert doch nur fünf Minuten«, bat die Dolmetscherin. »Ich würde es ja selber erledigen, aber ich bin sehr in Eile.« Damit rannte sie zum Auto und fuhr davon.
    Er blieb mit dem Zettel und dem Tausendkronenschein in der Hand zurück und rang eine Weile mit seinem Gewissen. Dann trabte er los.

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