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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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des Berichts die Augen, und Erlendur glaubte schon, dass er aufhören solle, aber dann kam das Zeichen zum Weitermachen.
    »Da ist eine Sache, nach der ich dich fragen möchte«, sagte Erlendur, als er zum Schluss von Andrés berichtet hatte. Es hatte ganz den Anschein, als schliefe Marian, die Augen waren geschlossen, und die Atemzüge waren kaum zu hören. Die Hand in Erlendurs Pranke war völlig kraftlos. Es hatte aber ganz den Anschein, als sei Marian Briem durchaus klar, dass dies kein reiner Höflichkeitsbesuch vonseiten Erlendurs war. Die Augen öffneten sich einen schmalen Spalt, und der Griff der Hand verstärkte sich etwas zum Zeichen dafür, dass Erlendur fortfahren sollte.
    »Es ist wegen Andrés«, sagte Erlendur.
    Marian drückte fester zu.
    »Er hat uns von einem Mann erzählt, den er kennt, und gab dabei zu verstehen, dass es sich um einen Kinderschänder handelt, wollte aber nicht mit dem Namen herausrücken. Er hat Andrés als Kind etwas angetan. Wir wissen nur, dass er jetzt in dem Viertel lebt, wo der Mord stattgefunden hat, aber wir haben keinen Namen und keine Beschreibung. Ich bin mir fast sicher, dass er nicht in unseren Karteien zu finden ist. Andrés hat behauptet, dazu sei derjenige viel zu gerissen. Mir fiel ein, dass du uns vielleicht helfen könntest. Es gibt zurzeit noch keine bestimmten Anhaltspunkte in der Ermittlung, und wir müssen allem nachgehen, was verdächtig ist, das brauche ich dir nicht zu sagen. Und wie immer ist Eile geboten, in diesem Fall vielleicht mehr als je zuvor. Ich habe gedacht, du könntest uns womöglich helfen, unnötige Umwege zu vermeiden.«
    Auf Erlendurs Worte folgte langes Schweigen, sodass er glaubte, Marian Briem sei eingeschlafen. Die Hand war wieder kraftlos, und über dem Gesicht lag Frieden.
    »Andrés …?«, sagte Marian endlich, und es klang mehr wie ein Stöhnen oder Seufzen.
    »Ich hab alles überprüft«, sagte Erlendur. »Er ist in Reykjavík geboren und aufgewachsen. Wenn etwas Derartiges vorgefallen ist, dann höchstwahrscheinlich hier in Reykjavík. Wir wissen es aber nicht, Andrés schweigt sich aus.« Marian blieb stumm. Erlendur befürchtete schon, dass es hoffnungslos sei. Er wartete auch auf nichts Bestimmtes, sondern wollte es auf einen Versuch ankommen lassen. Er wusste, zu was Marian Briem fähig war, er kannte dieses phänomenale Gedächtnis und diese Fähigkeit, die heterogensten Dinge in Sekundenschnelle miteinander zu kombinieren. Vielleicht missbrauchte er die Situation, vielleicht ging er zu weit. Er beschloss, es dabei bewenden zu lassen. Marian sollte in Frieden sterben können.
    »… er hatte …«, hörte er auf einmal, und die Hand griff wieder fester zu.
    Erlendur glaubte, ein kleines Lächeln um den Mund spielen zu sehen. Er hielt es zunächst für einen Irrtum, aber dann stellte er fest, dass Marian Briem tatsächlich lächelte.
    »… Stiefvater«, stöhnte Marian.
    Dann war wieder alles still.
    »Erlendur«, sagte Marian nach längerer Zeit. Die Augen waren noch geschlossen, doch das Gesicht verzog sich wieder zu einem Lächeln.
    »Ja«, sagte Erlendur.
    »Es ist … keine … Zeit mehr …«
    »Ich weiß«, sagte Erlendur. »Ich …«
    Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nicht, wie er Abschied nehmen sollte, fand die Worte nicht, die den letzten Abschied auf dieser Erde zum Ausdruck brachten. Was konnte man sagen? Marians Hand lag immer noch in der seinen. Erlendur versuchte, die richtigen Worte zu finden, etwas von dem er glaubte, dass Marian es hören wollte. Als ihm nichts einfiel, saß er stumm auf der Bettkante und hielt die alte Hand mit den nikotingelben Fingern und den langen Nägeln.
    »Lies … mir … vor …«, sagte Marian.
    Marian bot die letzten Kräfte auf. Erlendur beugte sich vor, um besser zu verstehen.
    »Lies …«
    Marian Briem tastete kraftlos nach dem Spiegel auf dem Nachttisch. Erlendur streckte die Hand danach aus und reichte ihn Marian.
    Erlendur zog das abgegriffene und zerfledderte Buch heraus, das er mitgebracht hatte, und öffnete es an der Stelle, die er schon oft aufgeschlagen hatte, und begann zu lesen.
    Jahrhundertelang konnte man von Eskifjörður nach Fljótsdalshérað nur über die hohen Berge hinter Eskifjörður gelangen. Es handelte sich um einen alten Reitweg, der nördlich des Flusses über den Bergrücken Langihryggur am Innri-Steinsá entlang ins Vinárdalur mit seinen sanften Hängen führte und über eine Geröllhalde hoch am Urðarklettur vorbei, wo man

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