Frostnacht
gekommen und aufgewachsen war. Das Haus stand immer noch zu Füßen der Berge. Er hatte darin übernachtet, wenn er seine Heimat aus schwer zu fassenden Gründen besuchte. Vielleicht, um wieder die Stimmen aus der Vergangenheit zu hören und sich an das zu erinnern, was er einmal besessen und geliebt hatte.
In diesem Haus, das jetzt schutz-und leblos Wind und Wetter ausgesetzt war, hatte er zum ersten Mal das unbekannte, schauderhafte Wort gehört, das sich tief in sein Bewusstsein eingegraben hatte.
Mörder.
Vierzehn
Das Mädchen erinnerte ihn ein wenig an Eva Lind, obwohl sie jünger und etwas pummeliger war. Eva war zeit ihres Lebens spindeldürr gewesen. Das Mädchen hatte eine kurze, schwarze Lederjacke an und darunter ein dünnes, grünes T-Shirt und verschmutzte Militärhosen. Die eine Augenbraue war gepierced, die Lippen waren schwarz und das eine Auge dunkel umrahmt. Sie gab sich taff und saß Erlendur mit einer Miene gegenüber, die Trotz und eine zutiefst ablehnende Haltung gegen alles verriet, was mit der Polizei zu tun hatte. Elínborg saß neben Erlendur und sah das Mädchen mit einem Gesichtsausdruck an, der verriet, dass sie es am liebsten sofort in die Waschmaschine stecken und auf Start drücken wollte.
Die ältere Schwester, die in allem das Vorbild dieses Teenagers zu sein schien, hatten sie bereits verhört. Die riss ganz schön die Klappe auf, sie hatte ja auch schon jede Menge Lebenserfahrung und war mehrfach wegen Drogendelikten verurteilt worden. Da es nie gelungen war, sie mit größeren Mengen zu erwischen, hatte sie immer nur kurze Strafen auf Bewährung bekommen. Sie weigerte sich wie gewöhnlich, die Namen derer zu verraten, für die sie dealte, und als sie gefragt wurde, ob ihr klar sei, was sie ihrer Schwester damit antäte, sie in die Drogenszene hineinzuziehen, lachte sie ihnen ins Gesicht und erklärte:
»Go get a life.«
Erlendur war bemüht, der jüngeren Schwester begreiflich zu machen, dass es ihm egal war, was sie da in der Schule trieb. Dealer fielen nicht in sein Ressort, deswegen würde sie seinetwegen keine Schwierigkeiten bekommen, aber falls sie seine Fragen nicht beantwortete, würde er dafür sorgen, dass sie die nächsten zwei Jahre in einem Milchbetrieb untergebracht würde.
»Milchbetrieb? Was ist das denn?«
»Von da kommt die Milch«, sagte Elínborg.
»Ich trinke keine Milch«, sagte das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen, als wäre das ihre Rettung.
Erlendur sah sie an und konnte sich trotz allem eines Lächelns nicht erwehren. Vor ihm saß ein klassisches Beispiel für all das, was ein Menschenleben deprimierend machen konnte: ein junges Mädchen, das nichts anderes kannte als Vernachlässigung und Elend. Sie kam aus einer typischen Problemfamilie und war ohne jede Fürsorge aufgewachsen. Das Mädchen konnte letzten Endes nichts dafür, was aus ihr geworden war. Die große Schwester, ihr Vorbild und vielleicht eine von denen, die sich um sie hätten kümmern sollen, hatte sie dazu gebracht, Drogen zu verkaufen und selbstverständlich auch selber zu nehmen. Und das war vielleicht noch nicht einmal das Schlimmste. Er wusste von seiner Tochter, wie Schulden beglichen wurden; wie man sich ein Gramm von dem Zeug organisierte, und was man manchmal auf sich nehmen musste, um sich den Kick zu kaufen, er hatte eine Vorstellung davon, was für ein Leben dieses junge Mädchen führte.
Sie wurde Heddý genannt und entsprach ziemlich genau dem Bild, das man bei der Polizei von den jugendlichen Dealern an den Schulen hatte. Sie stand kurz vor der mittleren Reife, wohnte in diesem Viertel und hing mit Jungen ab, die um die zwanzig waren, den Freunden ihrer großen Schwester. Sie war die Zwischenhändlerin, und in der Schule war ihnen bereits einiges über sie zu Ohren gekommen.
»Hast du Elías gekannt? Den Jungen, der ermordet wurde?«, fragte Erlendur.
Sie befanden sich im Verhörzimmer. Das Mädchen wurde von einer Vertreterin des Jugendamts begleitet. Ihre Eltern hatte man nicht erreichen können. Sie wusste, weshalb sie vorgeladen worden war, die Frau vom Jugendamt hatte ihr gesagt, dass es nur um das Sammeln von Informationen wegen des Mordes ging.
»Nein«, erklärte Heddý, »ich habe ihn nicht gekannt. Ich hab keine Ahnung, wer ihn umgebracht hat. Ich war es jedenfalls nicht.«
»Niemand behauptet, dass du es gewesen bist«, sagte Erlendur.
»Ich war es ja auch nicht.«
»Weißt du, ob er …« Erlendur zögerte. Er hatte fragen wollen, ob es zu
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