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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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wissen?«, fragte Sigurður Óli.
    »Ja, das würden wir wissen«, sagte der Mann.
    »Erzähl uns doch was über diese Zwischenfälle in der Schule, von denen wir gehört haben«, sagte Sigurður Óli zu Kári. »Was war da eigentlich los?«
    Kári schaute zu Boden.
    »Sag ihm, was du weißt«, forderte seine Mutter ihn auf. »Er hat sich in diesem Winter nicht sehr wohl in der Schule gefühlt, manchmal wollte er sogar gar nicht hingehen. Er hat Angst, dass ihm da welche auflauern. Einige Jungs sind hinter ihm her.«
    »Mama!«, sagte Kári und sah seine Mutter an, als würde sie seine peinlichsten Geheimnisse preisgeben.
    »Über einen Freund von Kári haben sie sich schon hergemacht«, sagte der Mann. »Die Schulleitung scheint da nichts ausrichten zu können. Wenn irgendwas schiefläuft, hat man fast den Eindruck, als sei kein Eingreifen möglich. Ein Junge erhielt für ein paar Tage Schulverbot, und damit hatte es sich.«
    »In der Schule behaupten sie, dass es keine direkte Ausländerfeindlichkeit oder derartige Zwischenfälle gibt«, sagte Sigurður Óli. »Angeblich gibt es keine Schlägereien oder Querelen, jedenfalls nicht mehr als in jeder anderen Schule. Dieser Meinung seid ihr nach dem, was Kári euch gesagt hat, wohl nicht?«
    Der Mann zuckte mit den Achseln.
    »Was ist mit Niran?«
    »Jungen wie Niran haben es schwer«, sagte die Frau. »Es ist nicht einfach, sich einer so völlig anderen und fremden Gesellschaft anzupassen, die Sprache ist schwierig zu lernen, und man wird dauernd mit ausländerfeindlichen Sprüchen und Ähnlichem konfrontiert.«
    »Solche Jungen können schon zu Problemfällen werden«, fügte ihr Mann hinzu.
    »Kannst du uns etwas dazu sagen, Kári?«
    Kári räusperte sich verlegen. Sigurður Óli dachte wie schon so oft, dass es viel besser wäre, mit den Kindern zu reden, ohne dass die Eltern danebensitzen.
    »Ich weiß nicht, ob du begreifst, wie ernst die Sache ist«, sagte Sigurður Óli.
    »Ich glaube, er versteht sehr gut, was auf dem Spiel steht«, sagte der Mann.
    »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du uns weiterhelfen könntest.«
    Káris Blicke wanderten zwischen seinen Eltern und Sigurður Óli hin und her. »Ich weiß nicht, wie er gestorben ist«, sagte er. »Ich hab Elías gar nicht gekannt, er war nie viel mit Niran zusammen. Niran wollte ihn nicht dabeihaben. Er war ja so viel jünger. Trotzdem hat er auf Elías aufgepasst. Er hat aufgepasst, dass ihn niemand ärgert. Ich weiß nicht, wie er gestorben ist oder wer ihn überfallen hat. Das weiß niemand von uns, keiner weiß, was passiert ist. Wir wissen auch nicht, wo Niran abgeblieben ist.«
    »Wie hast du Niran kennengelernt?«
    Kári stöhnte. Dann erzählte er, wie er den neuen Jungen kennengelernt hatte. Niran kam in seine Klasse. Sie waren die einzigen Kinder von Zuwanderern und freundeten sich rasch an. Kári wohnte ebenfalls erst seit Kurzem in dem Viertel, und er hatte sich auch schon ab und zu mit Jungen getroffen, die nicht aus Zuwandererfamilien stammten. Außerdem war er mit zwei Jungen befreundet, die von den Philippinen kamen, und hatte einen weiteren Freund aus Vietnam. Die wiederum kannten Nirans Freunde aus der alten Schule. Niran war bald der Anführer der Gruppe, und machte sie immer wieder auf ihre Sonderstellung als Ausländerkinder aufmerksam. Seiner Meinung nach waren sie nichts richtig: Sie seien keine Isländer, auch wenn sie es gerne wären. Ein großer Teil der Isländer sähe sie wiederum in erster Linie als Ausländer an, auch wenn sie hierzulande geboren waren. Die meisten von ihnen hatten die Vorurteile am eigenen Leibe zu spüren bekommen, die schrägen Blicke, die Schimpfworte oder unverhohlenen Feindseligkeiten ihnen und ihren Familien gegenüber.
    Niran war kein Isländer und hatte auch kein Interesse, es zu werden. Aber hier oben auf der Insel im Nordmeer war er wohl auch kein richtiger Thai mehr. Er war zu dem Ergebnis gekommen, dass er im Grunde genommen keine richtige Identität hatte. Er gehörte weder der einen noch der anderen Nation an, sondern befand sich auf einem unsichtbaren und schwer greifbaren Grenzgebiet. Früher hatte er nie darüber nachzudenken brauchen, woher er kam. Er war Thai, geboren in Thailand. Er fand Unterstützung bei anderen Zuwandererkindern, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Er interessierte sich mehr und mehr für seinen Hintergrund, für die Geschichte Thailands und die seiner Vorfahren – darin ging er auf. Als er in der früheren Schule

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