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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Frage stellte, die Erlendur auch in den Sinn gekommen war.
    »Sind wir in Gefahr?«
    »Ich glaube nicht«, sagte der Fremde. »Aber trotzdem ist Vorsicht geboten. Man weiß ja nie, wenn so etwas passiert. Ich wollte nur, dass ihr Bescheid wisst. Ich muss noch zu einem anderen Hof, und dann …«
    Ein Stuhl wurde gerückt, der Gast stand auf. Erlendur drückte die Hand seines Bruders, und sie huschten durch den Flur zurück in ihr Zimmer und machten die Tür zu. Sie hörten, wie sich die Eltern an der Tür von diesem Mann verabschiedeten, und als die Jungen aus dem Fenster blickten, sahen sie, wie eine Schattengestalt rasch zum Auto ging und einstieg. Das Auto sprang an, die Scheinwerfer leuchteten auf, dann fuhr es los und verschwand hinter der Auffahrt zum Hof.
    Erlendur öffnete die Tür wieder einen kleinen Spalt und spähte auf den Flur hinaus. Er sah, wie seine Eltern an der Haustür standen und halblaut miteinander redeten. Er sah seinen Vater etwas tun, was er nie zuvor getan hatte, er verschloss sorgfältig die Türen, sowohl beim Haupteingang als auch beim Hintereingang zur Waschküche. Seine Mutter kontrollierte die Fenster und schloss alle, die offen standen. Als sie sich anschickte, zu ihnen ins Zimmer zu kommen, sprangen Bergur und er in die Betten. Kurz darauf ging die Tür auf, und ihre Mutter schaute durch den Türspalt zu ihnen herein. Sie betrat das Zimmer, ging zum Fenster und vergewisserte sich, dass es geschlossen war. Dann ging sie leise wieder hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
    Erlendur konnte nicht einschlafen. Er hörte seine Eltern in der Küche flüstern, traute sich aber nicht, zu ihnen zu gehen. Sein Bruder, der gar nichts von allem begriffen hatte, war bald eingeschlafen. Erlendur lag im Dunkeln und dachte an den Mörder, der möglicherweise zu ihnen unterwegs war. Und an den Vater des Mädchens, der mit einer Schrotflinte herumlief, übermannt von Zorn, Hass und Schmerz. Er lauschte den Geräuschen der Nacht um ihn herum, die immer lauter zu werden schienen. Was zuvor das freundliche Quietschen einer Wellblechplatte am Schafstall gewesen war, wurde jetzt zu einem grauenerregenden Beweis dafür, dass sich da draußen jemand herumtrieb. Wenn er ein Schaf blöken hörte, lag es bestimmt daran, dass der Mörder da unterwegs war, und wenn der Wind am Haus rüttelte, versetzte es ihn in Panik.
    Er sah Dagmar vor sich und ein Filetiermesser, und er stellte sich die entsetzliche Szene so lange vor, bis sein Herz ihm aus der Brust zu springen drohte. Sie kannten das Mädchen gut. Sie war aus dem nächsten Fjord, die Tochter von guten Bekannten, und hatte einige Male auf die Brüder aufgepasst, wenn ihre Eltern wegmussten.
    Nie zuvor hatte Erlendur etwas von Verbrechen, geschweige denn von Mord, gehört, und jetzt auf einmal, an diesem Abend, hatte sich das schlagartig geändert, und seine Welt war eine andere und grausamere geworden. Es gab da also etwas im Menschen, von dem er bislang nichts gewusst hatte, etwas, wovor er nun Angst hatte, was er nicht verstand. Seine Eltern sprachen am nächsten Tag mit ihren Söhnen über das, was vorgefallen war, sparten aber die Details aus. An diesem Tag blieben alle im Haus. Erlendur fragte, weshalb Leute so etwas taten, aber seine Eltern wussten keine Antwort darauf. Er fragte immer wieder danach, denn er wollte verstehen, was geschehen war, obwohl es unbegreiflich war und seine Eltern ihm die Antworten nicht geben konnten, nach denen er suchte. Er fand heraus, dass der Mann mit den schwarzen Schuhen und dem goldenen Ring der Bezirksamtmann gewesen war. Im Radio wurde von dem Mord berichtet und gesagt, dass eine umfangreiche Fahndung nach dem Mörder in die Wege geleitet worden war. Sie saßen in der Küche und lauschten. Erlendur sah die besorgten Mienen seiner Eltern. Er spürte das Grauen, die Trauer, das Unwiderbringliche und wusste, dass von nun an nichts wieder so sein würde, wie es gewesen war.
    Zwei Tage später wurde der Mörder gefasst. Er war niemals in ihre Nähe gekommen, sondern wurde in Akureyri verhaftet. Man war sich sicher, dass ihn der Vater des Mädchens, falls er seiner habhaft geworden wäre, erschossen hätte. Der Vater war bis zum Mittag des nächsten Tages mit seiner Flinte umhergeirrt, dann wurde er von der Polizei aufgegriffen, er war ein gebrochener Mann.
    Damals hatte Erlendur gelernt, dass es etwas gab, was Mord genannt wurde. Im späteren Verlauf seines Lebens hatte er Mördern Auge in Auge gegenübergestanden.

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