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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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sie verschwindet.«
    »Das ist Schwachsinn«, erklärte der Mann.
    »Deine neueste Liebschaft wird nervös. Schuldgefühle überwältigen sie. Sie ruft mich an und …«
    »Was fantasierst du dir da eigentlich zusammen?«, stöhnte der Mann.
    »Geht es nicht eher darum, was du dir zusammenfantasiert hast?«
    »Ich habe nie damit gedroht, jemanden umzubringen«, sagte der Mann. »Das ist gelogen!«
    »Hast du deine Frau betrogen?«, fragte Erlendur. »Hat sie dich deshalb verlassen?«
    Der Mann sah ihn lange an, ohne etwas zu sagen. Erlendur hatte sich nicht gesetzt, und sie standen einander gegenüber wie zwei Platzhirsche, die nicht von der Stelle weichen wollten. Erlendur sah, wie der Zorn in seinem Gegenüber kochte. Es war ihm gelungen, ihn in Rage zu bringen.
    »Oder hat deine neue Flamme bei ihr angerufen?«, fragte Erlendur.
    »Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest«, stieß der Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
    »So was passiert manchmal.«
    »Das ist Blödsinn!«
    »Ist deine Frau also dahintergekommen, dass du sie betrügst?«
    »Ich glaube, du solltest jetzt gehen«, entgegnete der Mann. »Es ist also kein simples Verschwinden, nicht wahr«, sagte Erlendur.
    »Raus.«
    »Du musst doch sehen, dass da irgendetwas nicht stimmt.«
    »Ich habe dir nichts mehr zu sagen. Raus!«
    »Ich kann gerne gehen«, sagte Erlendur, »aber damit ist dieser Fall nicht aus der Welt. Den setzt du nicht vor die Tür. Früher oder später kommt die Wahrheit ans Licht.«
    »Es ist die Wahrheit!«, schrie der Mann. »Ich weiß nicht, was vorgefallen ist. Versuch, das zu kapieren! Versuch endlich, das zu kapieren, Mensch! Ich weiß nicht, was passiert ist!«
    Als Erlendur endlich nach Hause kam, setzte er sich, ohne das Licht anzumachen, in seinen Sessel und lehnte sich zurück. Er war froh über die Ruhe und blickte zum Fenster hinaus. Seine Gedanken kreisten um Eva Lind und den Traum, den sie ihm erzählen wollte.
    Er sah das Pferd noch vor sich, wie es sich mit weit aufgerissenen Augen und geblähten Nüstern im Sumpf aufbäumte. Hörte das saugende Geräusch, als es ein Vorderbein losbekam, aber nur, um noch tiefer zu versinken.
    Er sehnte sich nach Frieden in seiner Seele. Er sehnte sich danach, zu den Sternen hochblicken zu können, die von Wolken verhüllt waren. Bei ihnen wollte er den inneren Frieden finden, Gewissheit über etwas Größeres und Wichtigeres als sein eigenes Bewusstsein, Gewissheit über die unendlichen Weiten von Zeit und Raum, zu denen er eine Weile aufblicken konnte.
    Es war nicht viel Platz für die Familie in dem kleinen Haus, das jetzt verlassen dalag. Die beiden Brüder mussten in einem Zimmer schlafen. Ein weiteres Zimmer gehörte ihren Eltern, und dann gab es noch die große Küche und dahinter eine Vorratskammer und ein kleines Wohnzimmer mit alten Möbeln und Familienfotos, von denen etliche jetzt in Erlendurs Wohnung hingen. Im Abstand von einigen Jahren zog es ihn immer wieder in den Osten des Landes, und er übernachtete dann in der Ruine des Hauses, das früher einmal sein Heim gewesen war. Von dort aus ging er zu Fuß in die Berge, manchmal auch zu Pferd, und schlief unter freiem Himmel. Er genoss es, allein umherzustreifen und nach und nach die tiefe Einsamkeit zu spüren, die in seinen heimatlichen Gefilden über ihn hereinbrach, wo er von Orten und Zeiten aus der Vergangenheit umgeben war, die ihn immer noch in ihren Bann zogen und die er vermisste. Er wusste, dass sie nur noch in seinen Erinnerungen existierten. Wenn er nicht mehr da war, würde nichts mehr davon bleiben. Wenn er nicht mehr war, würde alles so sein, als wäre es nie gewesen.
    Wie der Abend, als sein Bruder Bergur und er im Dunkeln in ihrem Zimmer lagen und eigentlich schon eingeschlafen sein sollten, aber noch putzmunter waren. Auf einmal hörten sie ein Auto vorfahren. Die Tür wurde geöffnet, und sie hörten die Stimmen ihrer Eltern, als sie den Gast begrüßten und ihn einließen. Die dunkle Stimme des Gastes kannten sie nicht. Zu dieser späten Stunde kam äußerst selten jemand zu Besuch. Die Brüder trauten sich nicht aus dem Zimmer, aber Erlendur öffnete die Tür ein wenig und sie horchten. Durch den Spalt konnten sie in der Küche die übereinandergeschlagenen Beine des Gastes sehen, der eine schwarze Hose und feste Schuhe trug, und eine große Hand, die auf dem Küchentisch lag. An der wulstigen Hand fiel ein goldener Ring auf, der in den Finger einschnitt. Sie hörten nicht, was gesagt

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