Frucht der Sünde
besten Träumen war sie selbst dieser Mensch. Wenn sie die Treppe hinaufging, würde sie sich selbst entdecken, ihr wahres Selbst kennenlernen, ihre verborgenen Fähigkeiten. Das war, so stand es in den Psychologiebüchern, die sie in den letzten Jahren gelesen hatte, die eigentliche Bedeutung dieses Traumes. Es ging darum, eine höhere Bewusstseinsstufe zu erreichen. Oder, in spirituellem Sinn, das Licht des Vertrauens durch die Dunkelheit zu tragen, bis man die wahre Erleuchtung erreichte.
Aber in den schlimmen Träumen wartete am Ende des Flurs hinter der letzten Tür weder ihr wahres Selbst noch irgendeine Erleuchtung auf sie. Eine Zeitlang hatte Sean auf sie gewartet, sie durch eine Lücke in zerfetztem Metall mit seinem blutigen Gesicht angegrinst.
War das jetzt einer von den guten oder einer von den schlechten Träumen?
Nein.
Es war kein Traum. Das war endlich die Wirklichkeit. Sie war ihrer Berufung gefolgt, hatte sich dem Heiligen Geist anvertraut und war schließlich in ein Haus mit zwei Obergeschossen gezogen. Alles ganz logisch. Und das Zupfen an ihrer Hand?
Das war nicht Jane gewesen.
Also gut. Sie würde es tun. Merrily hob den Blick und sah die Treppe hinauf.
Sie bekam keine Luft mehr.
«Mom?»
Oh Gott … ich bekomme keine Luft mehr.
«Mom!»
Eine Eisenklammer schien um ihre Brust zu liegen und sich immer fester zusammenzuziehen.
«Mami!» Sie blinzelte, und Luft strömte in ihre Lungen. Keuchend setzte sich Merrily auf. Jane hielt sie an den Schultern fest. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und das Morgenrot malte einen rosa Schein auf ihr dunkles Haar.
«Da bist du ja wieder», krächzte Merrily.
«Mom, ich bin nirgendwo gewesen.»
«Du warst im Bad.»
«Nein …»
Merrily wandte sich zur Tür um. Sie war geschlossen.
«Du hast geträumt», sagte Jane.
«Es kann kein Traum gewesen sein, ich bin dir aus dem Zimmer gefolgt.»
Jane schüttelte den Kopf und trat ans Fenster.
«Oh, sieh mal, man kann bis zu den Hügeln hinüberschauen. Unser Haus steht höher als die Häuser auf der anderen Straßenseite. Von dem Stockwerk ganz oben muss es noch besser aussehen. Von meinem Apartment aus.»
Sie wandte sich um und grinste Merrily an.
«Ich mache uns einen Tee.»
15 Hazey Jane
Natürlich hatte sie auch schon früher solche Träume gehabt. Genau wie jeder andere auch. Und beim Träumen verstärkten sich oft die Reaktionen, weil man sich so hilflos fühlte. Unbehagen wurde zu großer Angst, unbedeutende Kleinigkeiten konnten sich in schreckliche Bedrohungen verwandeln. All das verschwand gewöhnlich wieder, wenn man aufwachte.
Doch an diesem Tag hing das Gefühl ihres Traums über Merrily wie eine bleierne Decke. Sie kniete unter dem Fenster, dessen Rahmen vom Morgenrot rosa gefärbt wurde, und hoffte, beim Beten wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Aber es gelang ihr nicht, die Erinnerung an den Alptraum abzuschütteln. Dieser Traum schien sie zu blockieren.
Und noch etwas war blockiert.
Was habe ich gesehen
?, fragte sich Merrily immer wieder.
Was habe ich gesehen, als ich die Treppe hinaufsah?
Etwas Kaltes schien an ihrer Wirbelsäule emporzukriechen und hinterließ ein unbestimmtes Angstgefühl.
Sie stand auf und ging zum Bad. Doch in der Tür schrak siezurück: Der Anblick des kalten, gefliesten Raumes erinnerte sie erneut an ihren Traum, und sie dachte sehnsüchtig an das komfortable Bad im
Black Swan
. Allerdings war es erst halb sechs. Viel zu früh, um in den
Swan
zu gehen. Komm schon.
Sind wir erwachsene Frauen oder nicht?
Merrily drehte den alten Wasserhahn auf. Unter dem abgetretenen schwarzweißen Linoleumbelag auf dem Fußboden zeichneten sich Eichendielen ab. Während Alf Haydens langer Amtszeit hatten die Neureichen Ledwardine in ein schmuckes Dörfchen verwandelt. Nur das Pfarrhaus war in einer anderen Epoche steckengeblieben.
«Du siehst ganz schön fertig aus», sagte ihre Tochter, die gerade dabei war, auf dem Aga Brotscheiben zu toasten. «Warum gehst du nicht einfach wieder ins Bett?»
«In welches Bett?»
Merrily beugte sich mit einer Zigarette im Mund über den Herd und suchte nach einem Feuerzeug.
«Ich bin ziemlich sicher», sagte Jane, «dass es deinem Gott nicht gefällt, wenn du wie ein Schornstein qualmst.»
«Schätzchen, wenn du mir die Stelle in der Bibel zeigst, wo
das
steht …»
«Schon gut. Ich habe eben gut geschlafen und du nicht.»
«Das liegt daran, dass du ein unschuldiges Kind bist. Hör mal, was würdest du
Weitere Kostenlose Bücher