Frucht der Sünde
etwas?»
Merrily musste lächeln. «Nein.» Sie streckte ihren Arm aus und nahm die kleine, kalte Hand in ihre. «Und ich fürchte, das alles hier ist kein Traum, Janey. Hat deine Stimmung vielleicht etwas mit dieser Platte zu tun? Diese CD, die du im Auto hattest. Woher kommt sie eigentlich?»
«Oh. Die hat mir eine Freundin gegeben.»
«Ach so.»
Merrily schloss die Augen. Auf keinen Fall würden sie am nächsten Abend wieder hier übernachten. Sie würde irgendetwas mit Roland vom
Black Swan
aushandeln, bis sie hier in richtigen Betten schlafen konnten.
«Ich hab dir doch von Lol erzählt», sagte Jane. «Die CD ist von seiner alten Band. Offenbar war er ziemlich von Nick Drake beeinflusst.»
«Aber nur in musikalischer Hinsicht. Das hoffe ich wenigstens.»
Jane antwortete nicht. Merrily sah in die Dunkelheit und dachte über diesen Lol nach, den Jane vielleicht ein bisschen zu gut kannte. Draußen blitzte das Licht eines Nachbarhauses durch die Bäume.
Viel später wachte Merrily auf, weil sie an der Hand gezogen wurde. Das einzige Licht im Raum war das des Mondes.
Mist. Warum kann sie nicht bis morgen früh warten?
Merrily rollte sich noch halb schlafend aus dem warmen Schlafsack. Sie musste das nicht tun, aber sie kannte Jane und wusste, dass sie trotz all ihrer Tapferkeit nicht gerne allein in diesem großen leeren Haus herumwandern würde.
Dann stand sie auf dem Flur. Eine Tür reihte sich an die nächste, und hinter einer dieser Türen musste das Badezimmer sein, wenn sich Merrily auch nicht mehr daran erinnerte, welche der Türen es war. Sie wusste nur noch, dass die Einrichtung des schmucklosen Badezimmers aus den Sechzigern stammte und in fast allen Kacheln Sprünge waren. Sie hatte ihren Morgenmantel im
Black Swan
gelassen, und es war kalt auf dem Flur. Das Treppenhausfenster zeichnete sich als helleres Rechteck an der Wand ab.
«Jane?»
Es war absolut still im Haus.
Warum kannst du nicht mal knacken oder knarren? Hast du überhaupt keine Persönlichkeit?
«Ja-ane?»
Welches war das Badezimmer? Sie öffnete eine der Türen. Dunkelheit und Leere schienen sie geradezu einzusaugen. Schnell drückte sie die Tür wieder ins Schloss.
Dann verschwand das Mondlicht, und sie erkannte kaum mehr als ein grünes Glimmen an einem der Deckenbalken, an dem ein Rauchmelder angebracht war. Sie tastete sich weiter und fand den nächsten Türgriff.
«Jane!»
Die Dunkelheit in dem pechschwarzen Flur schien den kurzen Namen mit dem hellen Klang in einen finsteren Tunnel zu ziehen und zu verschlucken. Langsam stieg Panik in Merrily hoch, und sie rüttelte an dem Türgriff. Nichts rührte sich. Vielleicht stand sie vor dem Badezimmer, und Jane hatte abgeschlossen.
«Jane …»
Dann gab die Tür plötzlich nach, und Merrily stolperte fast in ein riesiges, langgestrecktes Zimmer hinein. Sie packte den Griff und zog die Tür wieder zu. Als sie sich umdrehte, stand sie vor der Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Als sie diese Tür öffnete, hatte sie das Badezimmer vor sich. – Aber keine Jane.
Nein, nein, nein … Merrily eilte, so schnell es die Dunkelheitzuließ, durch den Flur zurück. Es schien ihr, als sei sie schon seit Stunden unterwegs, als hätte sie hinter unendlich vielen Türen nach Jane gesucht, und in dieser Zeit musste Jane ins Schlafzimmer zurückgegangen sein. Aber hinter welcher Tür war das Schlafzimmer?
Alle Türen waren geschlossen. Auch wenn Merrily sicher war, die Schlafzimmertür offen gelassen zu haben, hatte sie Jane wohl hinter sich zugezogen, als sie wieder ins Zimmer gekommen war. Jane hatte sie ausgesperrt!
«Jane!»
, schrie Merrily und rannte kopflos von einer Tür zur anderen. Alle sahen gleich aus, alle waren aus schwarzer Eiche, und alle waren geschlossen.
Schließlich fand sich Merrily an einer Treppe wieder. War sie etwa hinunter ins Erdgeschoss gegangen, ohne es zu bemerken? Das konnte doch nicht sein.
Nein. Das hier war die andere Treppe. Die nächste Treppe. Das zusätzliche Stockwerk. Ein leeres zweites Obergeschoss mit einem Flur voller Türen.
Merrily stand kalter Schweiß auf der Stirn. Sie wusste natürlich, dass sie hinaufgehen musste. In all ihren Träumen, in denen sie plötzlich ein unbekanntes zusätzliches Stockwerk entdeckt hatte, war klar gewesen, dass sie früher oder später die Treppe hinaufgehen musste. Und zwar wegen dieser
Anwesenheit
. Wegen der Anwesenheit eines anderen Menschen, der dort oben auf sie wartete. In den
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