Fruchtbarkeit - 1
ausgestreckt, tot, dort auf dem elenden, blutgetränkten Bette gelegen hatte.
»Mein Kind ist tot, mein Kind ist tot, man hat sie mir getötet!«
Der Wagen rollte weiter durch das Gedränge der Fahrzeuge und Fußgänger. Er gewann rasch die Rue SaintLazare, fuhr durch einen der engen Torbogen der Passage Tivoli, befand sich nun in diesem fast menschenleeren düsteren, feuchten, schmutzigen Gäßchen. Morange gebärdete sich wie wahnsinnig, kämpfte mit Mathieu, der, selbst von Tränen geblendet, ihm beide Hände hielt, während Sérafine, sehr wachsam und beherrscht, ihn beschwor, sich zu beruhigen, ihm den Mund mit ihren schlanken Fingern zuzuhalten, wenn er fortfuhr, zu stöhnen wie ein Elender, den man zur Richtstatt führt. Was wollte er tun? Er wußte es selbst nicht: laut heulen, aus dem Wagen springen, um schneller zu laufen, er wußte nicht wohin. Als der Wagen, die Räder im Rinnstein, vor dem verdächtig aussehenden Hof hielt, hörte er plötzlich auf, sich zu wehren, überließ sich den beiden, die ihn aussteigen ließen und mit sich führten wie einen Gegenstand. Aber in dem dunkeln und übelriechenden Torweg, dessen kalte Luft sich wie ein Leichentuch auf ihn senkte, sprang plötzlich die Erinnerung wieder in ihm auf, trat ihm mit der Macht einer fürchterlichen Erscheinung vor die Seele: das war derselbe Torweg wie dort, mit den rissigen und schimmeligen Mauern; und dann kam derselbe grünliche, übelriechende Hof, gleich dem Boden einer Zisterne. Alles wurde wieder lebendig, das schauderhafte Drama wiederholte sich, noch entsetzlicher als damals. Und welche Umgebung, diese wimmelnde Menge des Bahnhofs SaintLazare, dieses unaufhörliche Gedränge der Abreisenden und Ankommenden, dieser weite Platz, in dem sich die ganze Welt mit ihren Fieberdelirien zu ergießen schien, wie um hier ihr unbeschreibliches Wirrsal unterzutauchen! Und hier, zur Rechten und zur Linken, in dem steilen unteren Teil der Rue du Rocher und in diesem unbekannten Winkel der Passage Tivoli, gleichwie in zwei abscheulichen Höhlen, wo alle Schändlichkeiten, bei jedem ankommenden Zug erwartet und erspäht, sich bergen konnten, welch entsetzliche Zufluchtsstätten des Elends und des Verbrechens, diese beiden Mördergruben, die Entbindungsanstalt der Madame Rouche und die Klinik des Doktors Sarraille!
In seinem schmalen Ordinationszimmer, einem dunkeln, spärlich möblierten, von Äthergeruch erfüllten Gemache, warte Sarraille stehend, in schwarzem, abgetragenem Gehrock, mit harten, entschlossenen Augen in seinem plumpen, bleichen Gesichte. Sowie Morange taumelnd hereingekommen war, mit idiotisch stierem Blicke sich rings umsehend, während seine Zähne wie in heftigem Frost aneinanderschlugen, fing er an zu schreien, ohne Unterlaß zu wiederholen: »Wo ist sie? Zeigen Sie sie mir? Ich will sie sehen!«
Vergeblich versuchte Sérafine, unterstützt von Mathieu, ihm zuzureden, ihn mit guten Worten zu betäuben, um noch einige Minuten zu gewinnen, um womöglich den entsetzlichen Schlag des Schauspiels, das ihn erwartete, abzuschwächen. Er stieß sie von sich weg, er ließ nicht ab, immer wieder dieselben Worte zu stammeln, während er mit der Beharrlichkeit eines Tieres, das einen Ausgang sucht, um das Gemach kreiste: »Zeigen Sie sie mir, ich will sie sehen. Wo ist sie?«
Als sodann Saraille glaubte, ebenfalls zu ihm zu sprechen, ihn vorbereiten zu müssen, schien Morange ihn plötzlich zu bemerken und ging wütend auf ihn los, die Fäuste geballt, um ihn zu erschlagen.
»Sie sind also der Arzt, Sie sind es, der sie getötet hat!«
Dann folgte eine schreckliche Szene: der Vater fuchtelte mit den Armen, sprudelte Beschimpfungen, Drohungen hervor, alles, was ihm in den Mund kam, der Ausbruch des Schmerzes und der Raserei eines armen schwachen Menschen, dem man das Herz herausgerissen hat; während der Arzt ihn anfangs entschuldigte, sehr korrekt, sehr würdevoll blieb, bis endlich auch er sich empörte, und ihm zurief, daß man ihn getäuscht habe, daß ihn keine Verantwortung treffe, nach der unwürdigen Komödie, die diese junge Dame gespielt habe. Nicht wieder gutzumachende Worte wurden gesprochen, er verriet alles, die Schwangerschaft, die simulierten Schmerzen, die kritische Lage, in die sie ihn gebracht habe, indem sie sich wegen einer Neubildung operieren ließ, während sie einfach nur schwanger war. Allerdings hatte er sich geirrt, aber auch seine Professoren hätten derlei Irrtümer auf dem Gewissen, niemand sei
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