Fruchtbarkeit - 1
voll Ungeziefer, ohne Schuhe, ohne Kleider, wachsen sie für das Gefängnis und das Schafott auf, wenn sie die Tuberkulose nicht vorher hinrafft!«
Sie schauderte, sie schloß die Augen, um die entsetzlichen Bilder des Elends, der Schande, des Verbrechens nicht mehr zu sehen, mit denen sie in tägliche Berührung kam während ihrer Gänge durch diese Hölle der armen Mütter, der Prostitution und des Hungers. Sie war bleich geworden und verstummt, sie wagte nicht alles zu sagen, denn sie war auf den tiefsten Grund der menschlichen Greuel geraten. Manchmal sah sie zitternd zum Himmel auf und fragte sich, welche rächende Sintflut diese unselige Stadt verschlingen werde.
»Ach,« setzte sie noch leise hinzu, »sie leiden so sehr, mögen ihnen ihre Sünden vergeben werden!«
Moineaud hörte ihr stumpf zu, ohne sie anscheinend ganz zu verstehen. Er nahm mühsam die Pfeife aus dem Munde, denn diese Bewegung verursachte ihm erhebliche Anstrengung, ihm, der fünfzig Jahre lang das Eisen auf Amboß und Schraubstock bezwungen hatte.
»Man muß nur ehrlich sein,« sagte er schwerfällig. »Wenn man arbeitet, wird man belohnt.«
Aber als er die Pfeife wieder zum Munde führen wollte, konnte er nicht. Seine durch die schwere Arbeit steif gewordene Hand zitterte zu sehr. Norine mußte aufstehen und ihm helfen.
»Der arme Vater!« sagte Cécile, die fortgefahren hatte, Pappendeckel für die Schachteln zuzuschneiden. »Was wäre aus ihm geworden, wenn wir ihn nicht aufgenommen hätten? Irma mit ihren Hüten und Seidenkleidern hätte ihn schwerlich bei sich haben wollen.«
Seitdem Madame Angelin da war, hatte der Knabe Norinens sich vor sie hingestellt, denn er wußte, daß es an den Tagen, wo die gute Dame dagewesen war, am Abend Naschwerk gab. Er lächelte sie an, mit seinen hellen Augen in seinem hübschen Gesichte, das von krausen blonden Haaren umgeben war. Und als sie sah, wie begierig er darauf wartete, daß sie ihr Täschchen öffnete, wurde sie von einem zärtlichen Gefühle ergriffen.
»Komm, gib mir einen Kuß, mein kleiner Freund.«
Es gab für sie keine schönere Belohnung als diese Küsse der Kinder in den armen Häusern, in die sie ein wenig Freude brachte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als der Kleine ihr fröhlich um den Hals gefallen war, und sie wiederholte, sich an die Mutter wendend:
»Nein, nein, beklagen Sie sich nicht, es gibt Unglücklichere als Sie … Ich kenne eine, die, um diesen Kleinen zu haben, gerne Ihre Armut auf sich nehmen würde, und dieses Schachtelkleben vom Morgen bis zum Abend, und dieses eingeschlossene Leben in diesem dürftigen und einzigen Zimmer, welches durch ihn erhellt wird. Ach, mein Gott, wenn Sie tauschen wollten, wenn wir könnten!«
Sie schwieg; sie fürchtete in Tränen auszubrechen. Das war die immer wieder blutende Wunde, die Klage um das Kind, das sie zuerst auf später verschoben, dann so innig gewünscht hatte, und das nicht gekommen war. Die Gatten alterten nun in bitterer Einsamkeit, bewohnten in der Rue de Lille drei enge Hofzimmer, lebten hier zurückgezogen von dem Gehalte der Frau und von dem, was sie aus ihrem Ruin hatten retten können. Vollkommen erblindet, war der einst so zuversichtliche Fächermaler jetzt nur ein Gegenstand, ein armer, trübseliger Gegenstand, den seine Frau jeden Morgen in einen Fauteuil setzte, und den sie dort am Abend wiederfand, wenn sie von ihren täglichen Gängen durch schreckliches Elend, schuldige Mütter, leidende Kinder zurückkehrte. Er konnte nicht essen, sich nicht schlafen legen ohne sie, er war ihr Kind, wie er mit herzzerreißendem Spotte sagte, der sie beide weinen machte. Ein Kind? Ach ja, sie hatte nun endlich ein Kind, und das war er! Ein altes Kind des Unheils, er, der mit weniger als fünfzig Jahren achtzig zu sein schien, in seiner ewigen Nacht von der Sonne träumte während der langen Stunden, die er allein verbringen mußte. Und sie beneidete diese arme Arbeiterin nicht bloß um ihr Kind, sie beneidete sie auch um diesen seine Pfeife rauchenden Alten, diesen Invaliden der Arbeit, der wenigstens noch sah, der wenigstens lebte.
»Belästige doch die Dame nicht,« sagte Norine zu ihrem Sohn, betroffen, sie so bewegt zu sehen. »Geh und spiele.«
Sie kannte durch Mathieu ein wenig ihre Geschichte. Sie fühlte für ihre Wohltäterin eine innige Dankbarkeit und leidenschaftliche Verehrung, die sie ihr gegenüber schüchtern und demütig machte, jedesmal, so oft sie sie kommen sah, von hoher Gestalt,
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