Fruchtbarkeit - 1
vornehm, immer in Schwarz, ihre Schönheit mit kaum sechsundvierzig Jahren von Tränen beinahe verwischt. Sie erschien ihr gleich einer entthronten Königin, die schreckliches und ungerechtes Leid erduldet.
»Geh spielen, mein Herzchen. Du belästigst die Dame.«
»Mich belästigen, o nein!« rief Madame Angelin, ihre Bewegung bemeisternd. »Er tut mir im Gegenteil Wohl. Gib mir noch einen Kuß, mein liebes Kind.«
Dann sagte sie lebhaft, sich erinnernd:
»Oh, ich bleibe so lange hier und habe heute noch so viele Wege zu machen! Hier, das ist alles, was ich für Sie tun kann.«
Aber im Augenblicke, da sie endlich ein Goldstück aus ihrem Täschchen hervorzog, erscholl lautes Klopfen an der Tür. Norine erbleichte, zu Tode erschrocken: sie hatte das Klopfen Alexanders erkannt. Was sollte sie tun? Wenn sie nicht öffnete, würde der Halunke fortfahren zu poltern, würde Lärm schlagen. Sie öffnete notgedrungen, und es ereignete sich nichts von dem Heftigen und Gewalttätigen, das sie gefürchtet hatte. Ueberrascht, diese Dame hier zu finden, tat Alexandre nicht einmal den Mund auf, sondern wich zurück und lehnte sich gegen die Wand. Die Inspektorin hatte ihren Blick auf ihn gerichtet und dann wieder abgewendet; sie begriff, daß dieser junge Mann, der so empfangen wurde, ein naher Freund oder ein Verwandter war. Sie fuhr deshalb fort, ohne etwas zu verbergen:
»Hier sind zwanzig Franken, mehr kann ich leider nicht tnn. Aber ich verspreche Ihnen, daß ich im nächsten Monat trachten werde, den Betrag zu verdoppeln. Es ist der Monat des Zinstermins, und ich habe schon überall gebeten, daß man mir so viel als möglich gebe. Ach, ob ich wohl genug haben werde, ich hätte so vielen zu geben!«
Ihr kleines Täschchen lag geöffnet auf ihren Knien, und Alexandre sah mit gierig glänzenden Augen hin, überschlug im Geiste diesen Schatz der Armen, das Gold, das Silber, die Kupfermünzen selbst, die die Lederhülle füllten. Immer noch stumm, sah er zu, wie sie das Täschchen schloß, mit der Hand in die Kette schlüpfte und sich erhob, um zu gehen.
»Auf Wiedersehen also nächsten Monat, ja?« sagte sie. »Ich komme bestimmt am Fünften, und ich werde vermutlich meinen Rundgang bei Ihnen beginnen. Aber vielleicht wird es spät werden, da das gerade der Geburtstag meines armen Mannes ist. Seien Sie guten Muts und arbeiten Sie weiter fleißig!« Norine und Cécilie hatten sich ebenfalls erhoben, um sie bis an die Tür zu begleiten. Dort ergingen sie sich wieder in endlosen Danksagungen, und das Kind küßte die Dame nochmals herzlich aus beide Wangen. Die beiden Schwestern, die das Erscheinen Alexandres in angstvolle Bestürzung versetzt hatte, atmeten auf. Es verlief sogar alles ganz glimpflich, denn er zeigte sich nicht anspruchsvoll, begnügte sich, nachdem Cécilie wechseln gegangen war, mit einem Fünffrankenstück von den vier, die sie zurückbrachte. Er blieb auch nicht wie sonst, um sie zu quälen, sondern entfernte sich sogleich, nachdem er das Geld hatte, eine Melodie vor sich hin pfeifend.
Der Fünfte des folgenden Monats, ein Samstag, war einer der düstersten und nässesten Tage des trübseligen Winters. Um drei Uhr war es nahezu finster. An diesem fast vollkommen menschenleeren Ende der Rue de la Fédération befand sich ein leerer Bauplatz, von einem Bretterzaun umgeben, der im Laufe der Jahre morsch und faul geworden war. Viele Bretter fehlten, an einer Ecke klaffte eine große Lücke. Während des ganzen Nachmittags stand da, trotz des fortwährenden Regens, ein mageres Mädchen, in ein Stück eines alten, durchlöcherten Tuches gehüllt, das sie bis zu den Augen verbarg, vermutlich der Kälte wegen. Sie wartete hier offenbar auf irgendeinen Zufall, auf das Almosen eines mitleidigen Vorübergehenden, das Gelüste eines nicht wählerischen Lungerers, und sie schien sehr ungeduldig, denn sie entfernte sich jeden Augenblick von den Planken, an die sie sich drückte, streckte gleich einem auf der Lauer liegenden Tiere spürend ihren Kopf vor und blickte gegen das Champ de Mars hin.
Die Stunden verflossen, es schlug drei Uhr, und so dichte Wolken überzogen den Himmel, daß das Mädchen fast verschwand, nur mehr einem schwärzlichen Schatten glich. Manchmal hob sie den Kopf und sah mit ihren funkelnden Augen auf den sich verfinsternden Himmel, als ob sie ihm dafür danken wollte, daß er diesen einsamen Hinterhalt in solches Dunkel hüllte. Dann, im Augenblicke, da ein neuer Regenguß herabfiel, erschien
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