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Fruchtbarkeit - 1

Fruchtbarkeit - 1

Titel: Fruchtbarkeit - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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eine in Schwarz gekleidete Dame mit einem Regenschirm. Sie schritt schnell dahin, den Pfützen ausweichend, wie jemand, der Eile hat und seine Wege zu Fuße macht, um das Geld für einen Wagen zu sparen.
    Toinette erkannte sie offenbar schon von weitem nach einer ihr gegebenen genauen Beschreibung. Es war Madame Angelin, die, aus der Rue de Lille kommend, zu ihren Armen eilte, die Kette ihres kleinen Täschchens am Handgelenk. Und als Toinette den Stahl dieses Kettchens glänzen sah, zweifelte sie nicht mehr und ließ einen leichten Pfiff hören. Sogleich vernahm man Schreien und Stöhnen aus einem dunkeln Winkel des Bauplatzes, während das Mädchen selbst zu jammern und um Hilfe zu rufen anfing.
    Madame Angelin blieb erschrocken und betroffen stehen.
    »Was haben Sie mein Kind?«
    »Oh, Madame, mein Bruder ist dort gefallen und hat ein Bein gebrochen!«
    »Gefallen? Von wo gefallen?«
    »Ach ja, Madame, es ist ein Schuppen dort, wo wir schlafen, weil wir kein Zimmer haben, und er ist auf eine alte Leiter hinaufgestiegen, um das Dach ein wenig zu flicken, damit es nicht so hereinregnet, und da hat er sich ein Bein gebrochen.«
    Sie brach in Schluchzen aus, stammelte, was aus ihnen werden solle, erzählte, daß sie nun hier schon seit zehn Minuten verzweifelt rufe, ohne daß jemand ihnen zu Hilfe komme, in diesem Regen und dieser Kälte. Und zugleich verdoppelte sich das Stöhnen und Jammern von dem Bauplatz her.
    Obgleich ihr das alles durchs Herz schnitt, zögerte Madame Angelin doch ein wenig mißtrauisch.
    »Sie müssen einen Arzt holen, mein armes Kind. Ich kann nichts tun.«
    »O ja, Madame, bitte, kommen Sie! Ich weiß nicht, wo ich einen Arzt finden kann. Kommen Sie, wir wollen ihn aufheben, denn allein kann ich das nicht, und wollen ihn wenigstens aus dem Regen in den Schuppen tragen.«
    Sie gab nun nach, so wahrhaft schien ihr der Ton. Ihre häufigen Besuche in den ärmlichsten Höhlen, wo das Verbrechen auf dem Kehrichthaufen des Elends wächst, hatten sie mutig gemacht. Sie mußte ihren Regenschirm schließen, als sie durch die Lücke in den Planken sich durchzuzwängen hatte, dem Mädchen folgend, das barhaupt, in ihren Fetzen gehüllt, geschmeidig wie eine Katze vor ihr her glitt.
    »Geben Sie mir die Hand, Madame. Geben Sie acht, denn es sind Löcher da. Dort rückwärts ist es. Hören Sie, wie er vor Schmerzen schreit, mein armer Bruder? Da, hier sind wir.«
    Nun folgte der tückische Ueberfall. Die drei Räuber, Alexandre, Richard und Alfred, die in der Dunkelheit auf dem Boden gelegen hatten, sprangen auf und stürzten sich auf Madame Angelin mit solcher Wolfsgier, daß sie niederfiel. Alfred, der feige war, überließ sie jedoch sogleich den beiden andern und lief mit Toinette zu der Lücke in der Verplankung, um den Aufpasser zu machen. Alexandre, der ein zusammengerolltes Taschentuch bereit gehalten hatte, steckte es der Dame in den Mund, um ihre Schreie zu ersticken. Sie hatten nur die Absicht, sie zu betäuben und dann mit dem Täschchen die Flucht zu ergreifen. Aber der Knebel verschob sich, und sie stieß einen Schrei aus, einen lauten, schrecklichen Schrei; und gleichzeitig ließen die beiden andern an der Planke einen Warnungspfiff hören, offenbar, weil sich Leute näherten. Es mußte ein Ende gemacht werden. Alexandre wickelte ihr das Taschentuch um den Hals, während Richard mit brutaler Faust ihre Schreie in ihre Kehle zurückdrängte. Eine bestialische Wut hatte sie ergriffen, beide drehten das Taschentuch zusammen und zerrten ihr Opfer so lange herum, bis es sich nicht mehr rührte. Dann, als ein neuer Pfiff ertönte, ergriffen sie das Täschchen, ließen den leblosen Körper mit dem Taschentuch um den Hals liegen und liefen alle vier, liefen immer weiter, bis an den Pont de Grenelle, wo sie das Täschchen in die Seine warfen, nachdem sie die Sous, die Silber und Goldstücke in ihre Taschen gesteckt hatten.
    Als Mathieu in den Zeitungen die Einzelheiten des Verbrechens las, wurde er von Entsetzen ergriffen und eilte in die Rue de la Fédération. Der Name Madame Angelins, deren Identität alsbald festgestellt wurde, der Ort, wo der Mord begangen worden, kaum hundert Meter von dem Hause entfernt, in welchem die beiden Schwestern wohnten, erfüllten ihn mit einer schrecklichen Ahnung. Und er fand seine Befürchtung in vollstem Maße bestätigt, als nach dreimaligem Klopfen, und nachdem er seinen Namen genannt hatte, Cécile den Riegel zurückschob und ihm zitternd öffnete. Norine lag

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