Fruchtbarkeit - 1
Waise der Fürsorge einer Tante anheimgefallen, die im Orte einen Kramladen hielt, hatte sie sich bis nun aus Liebe zu dieser in den kleinen, finsteren Laden eingeschlossen. Aber die Tante war vor kurzem gestorben und hatte ihr etwa zehntausend Franken hinterlassen. Und es war ihre Sehnsucht, alles zu verkaufen, fortzugehen, endlich zu leben. Eines Abends im Oktober wurden Nicolas und Lisbeth einig, nachdem sie einander gesagt hatten, was sie noch zu niemand gesagt hatten. Sie legten entschlossen ihre Hände ineinander, sie vereinigten sich fürs Leben, für die schwere Aufgabe, eine neue Welt und eine neue Familie zu schaffen, auf irgendeinem Teil der Erde, in der unbekannten Ferne, von der sie noch nichts wußten. Es war eine prächtige Verlobung zweier Herzen voll Tapferkeit und Zuversicht.
Dann erst, als alles vorbereitet war, sprach Nicolas, kündigte seinem Vater und seiner Mutter seinen Entschluß an, fortzugehen. Der Abend nahte, ein noch milder Herbstabend, den die ersten Winterschauer durchwehten. Ein großer Schmerz erfaßte Mathieu und Marianne, als sie begriffen hatten. Dieses Mal flog das Junge nicht bloß aus dem Neste aus, um sein eignes Nest auf einem benachbarten Baume desselben Waldes zu bauen; es galt ein Davonfliegen übers Meer, eine Trennung für immer, ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Die andern Kinder sahen sie wieder, aber dieses sagte ihnen für ewig Lebewohl. Ihre Zustimmung sollte ihr Teil des grausamen Opfers sein, ihre schwere Gabe an das Schicksal, der Zehent, den das Leben von ihrer Liebe, ihrem Blute erhob. Der Sieg des unaufhörlich erobernden Lebens forderte von ihnen dieses Stück ihres Fleisches, diesen Überschuß der zahlreichen Familie, die überquoll, sich ausbreitete, die Welt besiedelte. Und was sollten sie antworten, wie es ihm verweigern? Der Sohn, für den nicht vorgesorgt war, ging von dannen, nichts war natürlicher, nichts vernunftgemäßer. Weit weg vom Vaterlande lagen noch unbewohnte große Kontinente, und der Same, den die Winde des Himmels forttragen, kennt keine Ländergrenzen. Auf die Rassen folgt die Menschheit, die unendliche Ausbreitung, das einzige und brüderliche Volk der vollendeten Zeit, da die ganze Erde nur ein Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit sein wird. Aber neben diesem großen Traume der Dichter, der Propheten, hatte Nicolas auch seine praktischen Gründe, die er, klug in seinem Enthusiasmus, entwickelte. Er wollte kein Schmarotzer sein, er wollte fortgehen, um sich eine neue Erde zu erobern und dort sein Brot zu bauen, da das zu eng gewordene Vaterland ihm keinen Platz mehr bot. Aber zugleich trug er dieses Vaterland lebend mit sich, und sein Ziel war, es in der Ferne durch unbegrenzten Zuwachs an Kraft und Reichtum zu vergrößern. Das alte, geheimnisvolle, heute schon aufgedeckte und durchquerte Afrika zog ihn an. Er wollte zuerst nach Senegal gehen und dann wahrscheinlich bis in den Sudan vordringen, in das Herz jungfräulicher Erde, wo er sich ein neues Frankreich erträumte, das mächtige Kolonialreich, das die gealterte Rasse verjüngen sollte, indem es ihr einen neuen Teil der Erde schenkte. Dort wollte er sich durch ausgedehnte Kulturarbeit sein Reich errichten, mit Lisbeth eine neue Dynastie der Froment gründen, ein unter der heißen Sonne mächtig wachsendes Chantebled, bevölkert mit dem Volke seiner Kinder. Und er sprach davon mit so begeistertem Mute, daß Mathieu und Marianne trotz ihres zerrissenen Herzens unter Tränen lächeln mußten.
»Geh, mein Kind, wir können dich nicht zurückhalten. Geh, wohin dich das Leben ruft, wo du es in Gesundheit, Kraft und Freude leben kannst. Alles, was dort drüben aus dir hervorgeht, wird wieder Gesundheit, Kraft und Freude sein, die uns entsprossen sind und worauf wir stolz sein werden. Du hast recht, wir dürfen nicht weinen, dein Abschied muß ein Fest sein, denn die Familie trennt sich nicht, sie breitet sich aus, sie überzieht und besiegt die Welt.« Als jedoch, nachdem Nicolas und Lisbeth geheiratet hatten, der Tag des Abschieds herankam, war er für alle ein Tag schmerzlicher Bewegung. Die Familie hatte sich zu einem letzten Mahle vereinigt, und als das unternehmungskühne junge Paar sich von der mütterlichen Erde losriß, schluchzten alle, obgleich sie sich vorgenommen hatten, tapfer zu sein. Sie zogen leicht an Gepäck und reich an Hoffnung aus, und nahmen außer den zehntausend Franken der Mitgift nur noch weitere zehntausend Franken mit, um die erste Zeit überdauern zu können.
Weitere Kostenlose Bücher