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Fruchtbarkeit - 1

Fruchtbarkeit - 1

Titel: Fruchtbarkeit - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Niederlage erlitten, daß sie nicht imstande gewesen war, die beiden gegen sich aufzubringen, daß sie gezwungen war, ihnen noch dankbar für die Wohltaten zu sein, die sie ihr erwiesen, die Kinder zu küssen, wenn sie ihr Blumen brachten.
    So vergingen die Monate, die Jahre, und Morange fand Constance fast jeden Abend, wenn er zu ihr hinüberging, in demselben stillen, kleinen Salon, in demselben schwarzen Kleide, in derselben Haltung unbeugsamen Harrens erstarrt. Von dieser Rache des Schicksals, von diesem so leidenschaftlich erhofften Unglück der andern traf nichts ein, ohne daß sie gleichwohl im geringsten an dem Siege zu zweifeln schien. Im Gegenteil, die Ereignisse mochten noch so sehr das Unglück auf sie häufen, sie richtete sich nur um so höher auf, bot dem Schicksal Trotz, von der Sicherheit aufrecht erhalten, daß es ihr schließlich doch recht geben werde. Und so blieb sie unbeweglich, keiner Mattigkeit zugänglich, auf das Wunder rechnend.
    An jedem Abend während dieser zwölf Jahre, an welchem Morange sie besuchen kam, begann ihr Gespräch in derselben Weise.
    »Nichts Neues seit gestern, Madame?«
    »Nein, lieber Freund, nichts.«
    »Nun, wenn man sich nur wohl befindet, das ist die Hauptsache. Man kann dann auf bessere Zeit warten.«
    »Oh, niemand befindet sich wohl, und doch wartet man.«
    Und eines Abends, nach zwölf Jahren, geschah es, daß Morange, als er eintrat, eine Veränderung in der Luft des kleinen Salons spürte, als ob eine neue Freude durch sein ewiges Schweigen zittere.
    »Nichts Neues seit gestern, Madame?«
    »Ja, lieber Freund, es gibt etwas Neues.«
    »Und etwas Gutes, hoffe ich, etwas Glückliches, das Sie erwarteten?«
    »Etwas, das ich erwartete, ja! Was man zu erwarten versteht, das kommt immer.«
    Er betrachtete sie erstaunt, fast beunruhigt, sie so verändert zu finden, mit leuchtenden Augen, mit lebhaften Bewegungen. Welcher endlich erfüllte Wunsch hatte sie nach so vielen Jahren, in denen sie wie in ihrer Trauer erstarrt geschienen hatte, plötzlich so aufleben gemacht? Sie lächelte, sie atmete tief, wie erleichtert von der schweren Last, die sie so lange zu Boden gedrückt hatte. Und als er sie um die Ursache dieses Glücksgefühls fragte, erwiderte sie: »Lieber Freund, ich kann Ihnen noch nichts sagen. Vielleicht habe ich unrecht, mich so zu freuen, denn alles dies ist noch sehr unbestimmt, sehr in der Luft schwebend. Das Ganze ist, daß ich heute vormittag von jemand gewisse Tatsachen erfahren habe; und ich muß mich vorerst überzeugen, muß hauptsächlich nachdenken. Dann werde ich mich sicherlich Ihnen anvertrauen, denn Sie wissen, daß ich Ihnen alles sage, abgesehen davon, daß ich diesmal wahrscheinlich Ihrer Hilfe bedürfen werde. Warten Sie ruhig und kommen Sie eines Abends zum Diner zu mir, wenn ich Sie darum bitten werde, wir werden dann den Abend vor uns haben, um alles in Ruhe zu besprechen… Oh, mein Gott, wenn es wahr wäre, wenn das Wunder sich ereignen würde!«
    Nahezu drei Wochen vergingen, ohne daß Morange die versprochene vertrauliche Mitteilung empfing. Er sah, daß sie von etwas sehr in Anspruch genommen und fieberisch erregt war, aber er stellte keine weiteren Fragen an sie, und fuhr seinerseits fort, das einsame, abgeschiedene, automatische Leben zu führen, das er nun schon seit so vielen Jahren führte. Er war nun neunundsechzig Jahre alt, es war dreißig Jahre her, daß seine Frau Valérie tot war, mehr als zwanzig Jahre, seit seine Tochter ihr gefolgt war, und er lebte immer noch trotz der Vernichtung seines Daseins, verrichtete in peinlich genauer Weise seine Arbeit im Bureau. Kein Mensch hatte so viel gelitten, so viel Furchtbares erlebt, solche Gewissensqualen erduldet, und er kam und ging nach wie vor mit seinen kleinen, abgemessenen Schritten, er dauerte immer noch in seiner Mittelmäßigkeit wie eine vergessene, verlorene Sache, wie durch den Schmerz konserviert. Gleichwohl mußte in ihm manches gebrochen sein. Er verfiel in die sonderbarsten Eigenheiten. Er hielt eigensinnig an der großen Wohnung fest die er einst mit seiner Frau und seiner Tochter bewohnt hatte, und er bewohnte sie jetzt ganz allein, nachdem er auch sein Dienstmädchen entlassen hatte, er besorgte selbst seine Einkäufe von Lebensmitteln, kochte selbst für sich, bediente sich selbst. Seit zehn Jahren hatte kein andrer Mensch den Fuß in die Wohnung gesetzt, und man vermutete eine schreckliche Vernachlässigung, so daß der Hauseigentümer vergeblich von

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