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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Lüscher
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Höflichkeit zuließ. Hinter mir hinderten zwei Kellner einen Absolventen des Trinity Colleges und Analysten eines Hedgefonds daran, sich über die von mir zurückgelassene Charcuterieplatte herzumachen. Ich fürchtete bereits, dass es noch zu unschönen Szenen kommen würde.»
    Was mir Preising hier also präsentierte, war eine Variante der Erzählung »Wo ich gerade war, als England den Staatsbankrott erklärte«, ein Genre, welches die Erzählung »Womit ich am 11. September gerade beschäftigt war« abgelöst hatte, die einen immerzu zwang, sich selbst eben an jenen Moment zu erinnern, an dem man zum ersten Mal – Hunderte sollten für jeden von uns noch folgen – auf einem Fernsehschirm ein Flugzeug in einen der Türme hatte fliegen sehen oder eben den milchgesichtigen Premierminister, angetan mit einer babyblauen Seidenkrawatte – die mir heute noch als unangemessen optimistisch und frivol in Erinnerung ist –, der seine Ansprache mit den Worten »Thirteenhundredfortyfive, when King Edward the Third told his florentin bankers …« begann, ein Bild von weit geringerer ikonografischer Kraft, das sich aber dennoch ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.
    Vor einem kleinen Fernseher im Sitzungszimmer einer Bayreuther Spedition, um den sich die gesamte Belegschaft versammelt hatte; vor einem Flachbildschirm in der Cafeteria der Universität Luzern. Das waren meine beiden Antworten. Zu Hause, in der Küche, vor dem Fernseher seiner Haushälterin, die Flugzeuge in die Türme; den Premierminister, so lauteten Preisings Antworten, in seinem heruntergekühlten Beduinenzelt, in ebenwelches, so fuhr er seine Erzählung fort, «ich mich zurückgezogen hatte, um der aufgeheizten Stimmung im Frühstückssaal zu entkommen und mir, durch die vielen Kanäle des Satellitenfernsehens schaltend, einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Allerorts begegnete ich aufgeregten Gesichtern. Sondermeldungen verlesenden Nachrichtensprechern, nachlässig gepuderten Kommentatoren, schwitzenden Experten. Von einem drohenden Flächenbrand, einer Epidemie war die Rede. Beides, wie du weißt, ist dann doch nur in weit geringerem Maß eingetroffen, als an diesem Morgen in den Fernsehstudios und auf den Sonderseiten der Weltpresse heraufbeschworen wurde.
    Bald schon war ich der Terminologie überdrüssig. Die Experten übertrumpften sich gegenseitig mit der Alternativlosigkeit und Unausweichlichkeit der Maßnahmen, die sie zu ergreifen vorschlugen. Die Auguren verkündeten abwechselnd den totalen Weltenbrand oder nur die große Katharsis. Die Politiker erklärten je nach Couleur den Kapitalismus, den Neoliberalismus, den Ordoliberalismus, die Marktwirtschaft an sich, nur den Finanzmarkt, den Sozialstaat oder wahlweise auch gleich die Demokratie als gescheitert. Schließlich blieb ich bei einem Nachrichtenkanal hängen, welcher ein, wie mir schien, in der allgemeinen Geschwätzigkeit zwingendes Format mit dem sinnigen Namen No Comment sendete, eine Sendung, die nur aus einer einzigen aufsichtigen Totalen bestand und das Treiben auf einer belebten Kreuzung in der Londoner City zeigte. Am linken Bildrand ragte ein grüngläsern verspiegeltes Gebäude in den Himmel, welches in einer unverständlichen konvulsivischen Gebärde, als plage es ein architektonischer Reizhusten, in unregelmäßigen Abständen größere Gruppen junger Leute ausspie, die, sich heftigen Windböen entgegenstemmend, einander beinahe niedertrampelnd, Kartons mit Bilderrahmen, Rudertrophäen und Topfpflanzen tragend, in den Regen hinausstürzten, direkt in die Arme einer aufgebrachten Menge, die mit Regenschirmen und selbst gebastelten Transparenten fuchtelnd, offensichtlich diesen bedauernswerten menschlichen Auswurf für die Misere verantwortlich machte.»
    Preising, von der vorangegangenen Nacht ungewöhnlich erschöpft, schlief über dieser grotesken und ihn über alle Maßen befremdenden Szene noch einmal ein und war deshalb auch nicht in der Lage, über die weiteren Entwicklungen im Resort Auskunft zu geben.
    Man hatte sich zu einer Krisensitzung im Speisesaal zusammengefunden, wobei sich Sanford bald in einer Art natürlicher Führungsrolle wiederfand, denn es hatten ja die meisten, bevor sie die Bühne in der City betraten, an den besten Universitäten der Welt studiert und jetzt, da der Vorhang gefallen war, war es nur selbstverständlich, dass sie sich jener Jahre entsannen, die sie am Busen der Alma Mater verbracht hatten, und nun denjenigen mit den

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