Frühling der Barbaren
zum Erliegen gekommen. Während es in London dunkle Nacht war, stießen Länder, deren Märkte geöffnet waren, ihre Pfundreserven zu verzweifelt schlechten Konditionen ab, und das Kabinett des Premierministers saß bis in die frühen Morgenstunden in der Downingstreet versammelt und schaute der Währung bei ihrem historischen Sinkflug zu, der sich schlagartig in einen Sturzflug verwandelte, als um neun Uhr Ortszeit die London Stock Exchange öffnete, an der man eigentlich an jenem Tag den Handel hätte aussetzen müssen. Man hatte sich aber noch nicht geeinigt, wer für den Schlamassel die Verantwortung übernehmen sollte, und so lange wollte man seine europäischen und transatlantischen Freunde nicht verunsichern; ein Zögern, welches fatale Folgen hatte, denn die Programme, die für einen Großteil der Transaktionen verantwortlich oder eben nicht verantwortlich waren, zeigten sich für einen solchen Fall, dessen Eintreten man bislang für unmöglich gehalten hatte, nicht gerüstet, stachelten sich in Rückkopplungsschleifen gegenseitig zu Höchstleistungen an und vernichteten innerhalb von Minuten Milliarden, noch bevor jemand reagieren konnte. Um fünf nach neun, Londoner Zeit, wurde der Handel eingestellt. Zur selben Zeit sprach der englische Finanzminister als Erster aus, was bereits offen zutage lag, dass das Land unter diesen Umständen für lange Zeit nicht mehr in der Lage sein würde, seine horrenden Staatsschulden zu bedienen. Marc und Kelly, bei denen es bereits fünf nach zehn war, schliefen in ihrem Beduinenzelt. Zu diesem Zeitpunkt überstieg die Rechnung für die Hochzeit, die sie in Tunesischen Dinar zu bezahlen hatten, gerade den Wert ihres Londoner Reihenhauses in Pfund Sterling, das noch zu achtzig Prozent der Bank gehörte, einer Bank, deren Anwälte gerade Insolvenz anmeldeten und eine E-Mail an die Mitarbeiter aufsetzten, in der sie ihnen vorschlugen, doch heute zur Arbeit einen Pappkarton mitzubringen.
Als der englische Premierminister vor die Presse trat und den Staatsbankrott verkündete, war Saida schon seit Stunden auf den Beinen und brachte mit ihren übernächtigten Mitarbeitern das Resort auf Vordermann. Sie klaubten Flaschen und zerbrochene Gläser aus den Blumenbeeten, schaufelten Erbrochenes in eine Schubkarre, und Saida zwang Rachid, in den Pool zu steigen, um eine Gartenliege herauszufischen und Kellys Bruder zu wecken, der in seinem gelben Schwimmring, den Kopf nach hinten gekippt, im Wasser trieb.
Zur selben Zeit, als die Finanzminister der europäischen Staaten zu einer einigermaßen panischen und chaotischen Telefonkonferenz zusammentrafen, fand Saida endlich Zeit, die Vorbereitungen für das Frühstücksbuffet zu überprüfen, sich mit einer Tasse Kaffee in ihr Büro zurückzuziehen und, wie es ihre Gewohnheit war, sich auf der Website der Tribune de Genève über die Weltlage zu informieren und zu hoffen, es fände in den Meldungen zur Genfer Lokalpolitik jener kommunistische Stadtrat Erwähnung, mit dem sie seit ihren Tagen in der Hotelfachschule eine ebenso einseitige wie unerfüllte Liebe verband.
So weit kam sie aber an jenem Tag nicht. Nach einem kurzen Moment der Überraschung und einem Nachprüfen der wichtigsten Fakten auf den Seiten von BBC und CNN griff sie zum Taschenrechner, überschlug die Kosten für die Hochzeitsfeier inklusive aller Übernachtungen für die zweiundsiebzig Gäste und kam auf die ungefähre Summe von sechshunderttausend Dinar, was, so überschlug sie im Kopf, vor einigen Stunden noch dem Gegenwert von einer Viertelmillion Pfund entsprochen hatte. Sie langte nach dem Telefon und wies den Buchhalter im Büro ihres Vaters in Tunis an, die Kreditkarten der Frischvermählten jeweils mit der absurden Summe von einer Million und zweihundertfünfzigtausend Britischen Pfund zu belasten, einer Summe, die, das war ihr klar, auch von den schwarz glänzenden Kreditkarten der beiden kaum gedeckt war, aber sie hoffte, man würde wenigstens den Kreditrahmen ausreizen. Dann eilte sie in die Küche und wies die Brigade an, die Frühstücksvorbereitungen einzustellen und alles bis auf einen Korb Fladenbrot und eine Schale Humus vom Buffet zu räumen.
Sie war nicht überrascht, als aus Tunis die Nachricht kam, beide Kreditkarten seien bereits gesperrt, und es gelang ihr auch nicht, die Kreditkarten der anderen Gäste, die an der Bar Runden ausgegeben und dabei ihre Kreditkartennummern hinterlegt hatten, zu belasten. So, wie es im Moment aussah, waren alle von
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