Fruehling

einmal die geringste Spur
von Naht dich drückt –: so war mein ganzes Leben,
und jetzt verkehrst du plötzlich die Natur.
    Werke I , 676 f.
    PIETÀ
    J etzt wird mein Elend voll, und namenlos
erfüllt es mich. Ich starre wie des Steins
Inneres starrt.
Hart wie ich bin, weiß ich nur Eins:
Du wurdest groß –
… … und wurdest groß,
um als zu großer Schmerz
ganz über meines Herzens Fassung
hinauszustehn.
Jetzt liegst du quer durch meinen Schooß,
jetzt kann ich dich nicht mehr
gebären.
    Werke I , 677
    Rom, Villa Strohl-Fern, am letzten März 1904.
 
    Христось воскресь!
    [Christós woskrjés!: Christ ist erstanden!]

    Liebe Lou,
    Ивановь [Iwanow] und Гоголь [Gogol] haben diese Worte einmal von hier aus geschrieben, und viele schreiben sie jetzt noch von hier in die österliche Heimat. Ach, aber es ist keine Osterstadt und kein Land, das unter großen Glocken zu liegen weiß. Es ist alles Aufwand ohne Frömmigkeit, Festvorstellung statt Fest.
    Mir war ein einziges Mal Ostern; das war damals in jener langen, ungewöhnlichen, ungemeinen, erregten Nacht, da alles Volk sich drängte, und als der Ивань Великий [Ivan Velikij: Ivan der Große, Name eines Glockenturms im
Kreml] mich schlug in der Dunkelheit, Schlag für Schlag. Das war mein Ostern, und ich glaube es reicht für ein ganzes Leben aus: Die Botschaft ist mir in jener moskauer Nacht seltsam groß gegeben worden und ins Herz, Ich weiß es jetzt: Христось воскресь!
    Gestern sang man in Sankt-Peter Palestrina. Aber es war nichts. Es zergeht alles in diesem hoffährtig-großen leeren Haus, das wie eine hohle Puppe ist, aus der ein dunkler Riesen-Schmetterling ausgekrochen ist. Heute aber war ich viele Stunden lang in einer kleinen griechischen Kirche; ein Patriarch war da in einem großen Kleid und durch das Kaiserthor des Ikonostas brachten sie ihm in langer Reihe seinen Schmuck: seine große Krone, seinen Stab aus Elfenbein, Gold und Perlmutter, ein Gefäß mit Hostien und einen goldenen Kelch. Und er nahm alles an und küßte die Träger, und es waren lauter Greise, die ihm das brachten. Und später sah man sie, die alten Männer mit den goldenen Mänteln und den Bärten, im Allerheiligsten um den großen, einfachen, steinernen Tisch stehen und lange lesen. Und draußen, vor der Bilderwand standen rechts und links, einander gegenüber, junge Klosterschüler, die sich ansangen, mit erhobenen Köpfen und gestreckten Kehlen, wie schwarze Vögel in Frühlingsnächten.
    Da habe ich Dir, liebe Lou, Христось воскресь gesagt.
    Und dann, gleich darauf, als ich nachhause kam, war Deine Karte da, auf der es stand. Ich danke Dir.
    Und für den Brief danke ich Dir und für das liebe Bild. Mir ist damit noch viel mehr erfüllt worden als die eine Bitte; Vergangenes, das verloren war, und Kommendes, das nicht kommen konnte, hält sich daran und steigt damit auf, liebe Lou.
    Der Krieg – unser Krieg –, ist fast wie eine körperliche Unruhe in mir, – aber ich lese wenig von ihm, weil Zeitun
gen mir ganz entwöhnt und zuwider sind und weil sie ja alles entstellen. In der »Zeit« (Tageblatt der Zeit ) war vor einigen Tagen der Brief eines russischen Offiziers, den ich mitsende; freilich, man hat nichteinmal den Takt gehabt, diese schlichte, zitternde Nachricht, ohne kränkende Einleitung abzudrucken. Einmal las ich auch, daß der Krieg voraussichtlich Jahre dauern würde; Kuropatkin sollte es gesagt haben; aber das kann doch nicht möglich sein!
    Es ist gut, daß Du in Deinem Hause bist, bei den Blumen, die kommen wollen; den Deinen bist Du ja auch so nahe, und bist doch daheim und hast den Frühling des Winters, den Du gelebt hast. Aber, daß Du krank warst . .?
    Sei gesund, liebe Lou, – Dir und denen, die Dich brauchen. Rainer.
    Andreas-Salomé (31. 3. 1904), 142-144
    STILLUNG MARIAE MIT DEM AUFERSTANDENEN
    W as sie damals empfanden: ist es nicht
vor allen Geheimnissen süß
und immer noch irdisch:
da er, ein wenig blaß noch vom Grab,
erleichtert zu ihr trat:
an allen Stellen erstanden.
O zu ihr zuerst. Wie waren sie da
unaussprechlich in Heilung.
Ja sie heilten, das war's. Sie hatten nicht nötig,
sich stark zu berühren.
Er legte ihr eine Sekunde
kaum seine nächstens
ewige Hand an dir frauliche Schulter.

Und sie begannen
still wie die Bäume im Frühling,
unendlich zugleich,
diese Jahreszeit
ihres äußersten Umgangs.
    Werke I , 678
    D u, den wir alle sangen,
du einziger und echter