Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Es war ein seltsamer Anblick, einerseits so liebevoll und rührend, und auf der anderen Seite so befremdlich, da hier eine menschenähnliche Frau einen Wolf als ihren Bruder bezeichnete. Dass beide von den gleichen Eltern abstammten, war in allen Ecken der Welt bekannt, doch rein äußerlich hatten sie nur ihre gewaltige Körpergröße gemein – wurden beide doch von der Riesin Angrboda ausgetragen.
„Wie ich sehe, hast du einen Gast mitgebracht“, sagte Hel, als sie ihren Blick endlich wieder vom Fenriswolf abwenden konnte.
Die Augen ihres Freundes sagten Arrow, dass sie näher kommen sollte und keine Angst zu haben brauchte. Doch tatsächlich ging es ihr durch Mark und Bein.
„Du fürchtest dich wohl vor mir“, stellte Hel mit einem spöttischen Grinsen fest.
Arrow wollte antworten, doch stattdessen konnte sie nur nicken.
Hel musterte sie zuversichtlich. „Du bist mutig, mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.“
Nach dem gescheiterten Versuch, sich ein wenig entspannen zu wollen, schluckte Arrow heftig und presste dann endlich doch noch eine Antwort zwischen den Lippen heraus. „Ich bin eine schlechte Lügnerin und außerdem werde ich das Gefühl nicht los, dass es mich hier nicht viel weiterbringen würde, wenn ich die Wahrheit leugne.“
„Und dennoch hast du nichts vor mir zu befürchten“, erwiderte Hel. „Meine Riesin Modgudr hat dir bereits in die Seele geblickt und so weiß ich längst um deinen Charakter.“
„Ich wünschte, es wäre so einfach“, entgegnete Arrow halblaut.
Überrascht von dieser Andeutung zog Hel ihre Augenbraue hoch. „Soll das etwa heißen, dass du nicht fähig bist, einer Frau zu vertrauen, deren Körper halb lebendig und halb tot ist?“
Kraftlos ließ Arrow ihre Schultern sinken. „Wenn es nur das wäre. Ich meine, ja, Eure Erscheinung ist sehr wohl ungewöhnlich. Doch ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der die Menschen an Gott und den Himmel glauben, während sie sich vor der Hölle fürchten. Und nun stehe ich der Herrscherin dieses Schattenreiches direkt gegenüber.“
Für einige unendlich lange Sekunden musterte Hel die völlig verängstigte Besucherin, die einfach so alles ausplauderte, was ihr gerade durch den Kopf ging. Dann brach sie in derart schallendes Gelächter aus, dass es durch die ganze Halle donnerte, und Arrow fragte sich verwundert, wie es möglich war, dass Schlangenwände ein solches Echo erzeugen konnten.
„Ich muss schon sagen, dass du mich verblüffst, junge Arrow. Doch wie du siehst, bin ich nicht der Teufel, und wie du sicher auch weißt, ist mein Reich nicht mit der christlichen Hölle zu vergleichen.“
Ein wenig hilflos zuckte Arrow mit den Schultern. „Trotzdem kann ich mich meiner Angst nicht entziehen. Das Bild der Hölle hat sich fest in meinen Kopf eingebrannt. Und als wäre das nicht schon genug, kommt dann auch noch die Tatsache hinzu, dass Ihr so unglaublich groß seid.“
„Dann ist es also Größe, die dir die meiste Furcht bereitet? Das ist alles Andere als klug.“
Eingeschüchtert von diesem Gespräch senkte Arrow ihren Kopf. Einerseits hatte sie gar nicht an diesem Ort sein wollen, doch auf der anderen Seite sagte ihr Herz wieder und wieder, dass es gut und vor allen Dingen richtig war.
„Vielleicht“, unterbrach Hel Arrows Gedanken, „ist es einfach so, dass du dich nicht vor der Größe in Form der äußeren Erscheinung fürchtest, sondern vor dem, wozu ein Wesen von solcher Statur fähig ist, oder auch vor dem, wozu du selbst fähig bist. Lass dir in diesem Fall aber gesagt sein, dass innere Größe nur selten etwas mit Äußerlichkeiten zu tun hat.“
Arrow blickte der Göttin in die Augen. „Im Moment habe ich nur einen einzigen Wunsch. Ich möchte meinen Vater finden, ihm in die Augen sehen und ihm ein letztes Mal sagen können, dass ich ihn liebe.“
„Was hindert dich daran?“, fragte Hel ganz selbstverständlich, als hätte jeder Verstorbene eine öffentlich zugängliche Postadresse in der Unterwelt, unter der man ihn erreichen könnte.
Stutzig schaute Arrow sich um. „Ist er denn hier?“
„Zweifellos befindet er sich im Totenreich, doch hier bei mir hält er sich nicht auf.“
Arrows Schultern sackten ein. Sie richtete ihren Blick gen Boden und ließ sich an einer Säule niedersinken. Gerade als sie dazu ansetzte, ihre Stiefel abzustreifen, sagte Hel: „Das würde ich an deiner Stelle lieber bleiben lassen. Der Gnom hat schon gewusst, warum er dir damals dieses Schuhwerk
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