Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Arrows Ohr, doch ehe sie diese richtig wahrnehmen konnte, verstummten sie auch schon wieder. Filigrane Schattenlichter schlichen an ihr vorbei und verschwanden ebenfalls, bevor Arrow sie näher bestimmen konnte. Abgesehen von diesen verschwommenen Klang- und Farbenspielen, die hin und wieder wie ein winziger Hauch von Ahnung auftauchten und gleich danach wieder verschwanden, war sie allein. Was sollte sie also tun? Aus vollen Kräften zu rufen, ob sie jemand hören könne, erschien ihr keineswegs angemessen – nicht hier, nicht in Walhall.
So sah also das Ende einer langen Reise für diejenigen, die ruhmreich und heldenhaft gelebt hatten, aus. Dies war der Himmel und er wurde dieser Bezeichnung in jeder Hinsicht gerecht. Alles erstrahlte in reinem Weiß. Selbst die langen Tafeln waren aus tadellosem Marmor gefertigt und am Ende der großen Halle standen auf einem hohen Podest zwei gewaltige weiße Marmorthrone, deren Maße sich den riesigen Toren im ganzen Palast anglichen.
Es war ein seltsames Gefühl. Obwohl weit und breit keine einzige Person zu sehen war, erweckte es irgendwie nicht den Anschein, als wäre sie allein. Ebenfalls spürte sie kein bisschen Feindseligkeit, sondern hatte vielmehr den Eindruck willkommen geheißen zu werden. Und so schritt sie, mit der Welt und sich selbst im Einklang, durch die Hallen und genoss ihren Aufenthalt, bis endlich eine liebliche Melodie erklang, die nicht sofort wieder verstummte, sondern mit jedem Schritt klarer wurde.
An einem der großen, glaslosen Fenster erblickte sie einen jungen Mann, der dem Lied mit geschlossenen Augen lauschte. Vorsichtig näherte sie sich ihm und beobachtete voller Bewunderung seine entspannte Haltung. Er sah sehr sympathisch aus und irgendetwas ließ in Arrow das Gefühl von Vertrautheit aufsteigen. Es war, als würde sie ihn bereits seit Jahren kennen, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, wer er war. Das haselnussbraune Haar fiel ihm in feinen Strähnen ins Gesicht. Seine vornehme Kleidung erinnerte ein wenig an Williams Kleider und ließen ihn wie einen Edelmann anmuten.
Als er seine Augen öffnete, musste Arrow lächeln, denn er strahlte eine derartige Wärme aus, dass sie sich von ihm magisch angezogen fühlte. Hinzu kam, dass völlig unerwartet seine strahlend blauen Augen aufleuchteten, die ihn wahrlich besonders aussehen ließen. Noch nie zuvor hatte Arrow jemanden mit dunklem, braunen Haar und derart blauen Augen gesehen.
„Hallo“, sagte er überrascht und höflich zugleich.
„Hallo“, erwiderte Arrow.
„Ich habe gar nicht mitbekommen, dass mir jemand Gesellschaft leistet“, entgegnete der junge Mann verlegen. „Stehst du schon lange hier?“
„Ich glaube nicht“, sagte Arrow und im selben Moment wurde ihr bewusst, dass ihm diese Art von Aufmerksamkeit womöglich unangenehm war. „Tut mir leid, dass ich dich so angestarrt habe, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass wir uns irgendwie kennen.“
„Wie ist denn dein Name?“
„Ich heiße Arrow.“
„Arrow? Tut mir leid, doch mir ist keine Person bekannt, die so heißt.“
„Wirklich? Ich war mir so sicher.“ Verunsichert schaute Arrow sich um. „Trifft man hier immer so wenige Leute? Ich hatte immer angenommen, dass Walhall ein Ort voller Leben ist.“
Der junge Mann lächelte. „Du kannst sie nicht sehen. Sie sind schon da, doch solange du nicht wirklich angekommen bist, bleiben sie dir verborgen.“
„Aber ich bin doch hier“, entgegnete Arrow stirnrunzelnd.
„Ein Teil von dir ist es. Den anderen hast du an einem fernen Ort zurückgelassen, höchstwahrscheinlich bei jemandem, den du liebst. Mir geht es ganz ähnlich.“ Der junge Mann öffnete seine Hand und zeigte Arrow ein glänzendes Schmuckstück. „Manchmal sehe ich sie für einen Moment, doch wenig später kehrt mein Herz zu meinem Liebsten zurück.“ Er öffnete die kleine Kostbarkeit, und plötzlich erklang die liebliche Melodie erneut.
Als Arrow die blauen Lilien erblickte, blieb ihr fast das Herz stehen. „Du bist Darren“, flüsterte sie. Im Sumpf der Erinnerungen hatte sie einst mit ansehen müssen, wie Harold unter Tränen seinen leblosen Körper in den Armen gehalten hatte.
Er lächelte verträumt. Dann fragte er: „Woher weißt du das?“ Und dann verschwand er vor ihren Augen.
Dumpfe, schwerfällige Schritte ertönten so schwach, als kämen sie aus weiter Ferne. Arrow schaute sich um, doch weit und breit war niemand mehr zu sehen. Sie spürte die Anwesenheit einer
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