Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Gestalt im Raum, die innehielt und sie betrachtete.
„Du bist von weit her gekommen“, sprach der Unsichtbare mit einer tiefen, starken Stimme. Und obwohl er überaus freundlich klang, erstarrte Arrow beinah vor Ehrfurcht.
„Ich bin auf der Suche nach meinem Vater“, entgegnete sie mit zitternder Stimme.
„Dein Anliegen ist mir schon lange bekannt, doch muss ich dich leider enttäuschen, denn er befindet sich nicht in Walhall.“
Melchior war nicht in Walhall? Diese Worte fühlten sich an wie ein Stich ins Herz. „Ist er möglicherweise ein Teil des Versteinerten Waldes?“, fragte sie hoffnungsvoll, als wäre dies der letzte Halm, den sie noch ergreifen konnte, das Einzige, das sie jetzt noch vor ihrem Seelenschmerz erretten könnte.
„Auch das trifft nicht zu“, antwortete er.
Enttäuscht ließ Arrow die Schultern sinken. Tränen stiegen in ihr auf.
„Verzweifle nicht“, sagte die Stimme sanftmütig. „Deine Reise war nicht umsonst. Ein Platz in meinen Hallen ist lange schon für deinen Vater reserviert. Wir erwarten ihn. Doch es liegt allein in deinen Händen, ihn zu uns zu führen. Folge deinem Herzen und es wird dich zu ihm geleiten.“
Vor Arrows verschwommenem Blick tauchte die Schlüsselblume auf und sank sanft in ihre Hände.
„Behalte sie“, sagte der Unsichtbare. „Es ist ein Geschenk zum Dank dafür, dass du einst jemandem aus unseren Reihen geholfen hast, den Weg nach Hause zu finden.“
Gleißendes Licht umhüllte Arrow, und als sie das Gackern eines glücklichen Huhnes vernahm, erblickte sie für einen kurzen Moment die schwachen Umrisse eines Minotaurus. Es erfüllte ihr Herz mit Freude, und das Gefühl hielt selbst dann noch an, als sie sich wieder zurück im Reich der Hel befand. Lächelnd betrachtete sie die Blume und verstaute sie anschließend wieder sicher in ihrem Medaillon.
Der Fenriswolf war sichtlich erfreut, als er Arrow wieder vor seinen Augen auftauchen sah.
„Wenn ich deine Miene richtig deute, warst du erfolgreich“, sagte Hel.
„Nicht in der Art, nach der ich auf der Suche gewesen bin, doch in anderer, völlig unerwarteter Hinsicht“, gab Arrow mit strahlenden Augen zurück.
Hel lächelte zuversichtlich. „Was das angeht, kann man sich auf das Schicksal verlassen. Es überrascht einen immer wieder.“
„Trotzdem weiß ich noch immer nicht, wo ich meinen Vater finden kann. Diesbezüglich bin ich also nicht wirklich weiter gekommen.“
„Er war nicht in Walhall?“
Arrow schüttelte den Kopf. „Der Unsichtbare sagte, dass ein Platz dort für ihn reserviert sei, es aber nur in meiner Macht läge, ihn dort hinzuführen. Im Versteinerten Wald soll er sich seinen Worten nach auch nicht aufhalten. Im Prinzip hat mich diese Aussage mehr verwirrt als alle anderen Hinweise zuvor.“
„Odin kann nur von der Welt hinter den Welten gesprochen haben“, bemerkte Hel nachdenklich. „Das macht die ganze Sache natürlich schwieriger, als ich es zunächst angenommen hatte.“
Hels Blick ließ Arrow das Blut in den Adern gefrieren. Jede Art von Zuversicht war verschwunden. Stattdessen sah sie besorgt aus.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte Arrow, obwohl sie die Antwort schon zu kennen glaubte.
„Einer, an dem das Chaos regiert. Die Welt hinter den Welten wird weder von Göttern noch von Dämonen aufgesucht. Es ist ein Ort, an dem man Hirngespinste nicht mehr von der Realität unterscheiden kann, und niemand hat die Macht, das kontrollieren zu können. Gepeinigte Seelen, die nicht in die Hölle gehören und sich selbst als zu wertlos erachten, um in Walhall einzuziehen, leben dort mit all ihren Ängsten. Sie erschaffen sich ihre eigene Welt und bemerken dabei noch nicht einmal, dass sie die Schwelle zum Totenreich längst überschritten haben. Sie vergessen alles Gute und halten sich selbst gefangen. Direkt dahinter beginnt das Nichts.“
„Wie kann ich dort hingelangen?“
Hel erschrak. „Du kannst diese Welt nicht betreten! Nur ein Dummkopf würde das freiwillig tun. Nicht einmal die reine Seele in deinem Körper könnte dich dort vor den Gefahren schützen. Im Chaos ist sie machtlos.“
„Ich habe keine andere Wahl“, entgegnete Arrow betrübt. „Viele schlaflose Nächte quälen mich seit seinem Tod. Ich plage mich mit Vorwürfen und existiere nur noch, anstatt zu leben. Und wenn ich dann doch meiner Müdigkeit erliege, so werde ich in einen tiefen Strudel von Alpträumen gerissen, die mich zwingen, seinen Tod wieder und wieder zu
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