Frühlingserwachen (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Beine und seine Augen schienen, als wäre es blind. „Ich gebe dir Sleipnir“, erklärte sie. „Es ist das Pferd des Gottes Odin und wird dich auf die andere Seite geleiten. Die Regeln dieses Weges sind die gleichen wie die des Holunderwaldes. Sieh nicht zurück, und rede mit niemandem. Und egal was auch immer du tust – steige unter gar keinen Umständen von diesem Pferd ab, bevor du die Welt der Sterbenden hinter dir gelassen hast!“
„Die Welt der Sterbenden?“, fragte Arrow zitternd.
Frau Gaude nickte. „Komm jetzt“, drängte sie betrübten Blickes. „Du musst gehen.“ Geschwind half sie Arrow auf das achtbeinige Pferd. „Eines noch – wenn du anfängst, Dinge zu vergessen, musst du die Unterwelt schleunigst verlassen. Sich nicht erinnern zu können, heißt sterben. Dir bleibt also nicht unendlich viel Zeit. Ab einem gewissen Punkt wird es zu spät sein.“
Dann drückte sie Arrow ein kleines Beutelchen in die Hand. Doch bevor Arrow fragen konnte, was es war, verschwand die Alte vor ihren Augen, und Sleipnir schritt mit Arrow durch das Tor.
Die Welt der Sterbenden
Es war weder kalt noch heiß in der Welt der Sterbenden. Licht und Schatten regierten hier gleichermaßen. Dunkle, Furcht erregende Gestalten sprangen zwischen den Welten hin und her.
Die Welt der Sterbenden bestand aus unzähligen Fenstern, die alle dicht aneinander gereiht waren. Mittendrin ebnete ein Pfad den Weg auf die andere Seite. Arrow kannte diesen Übergang. Mit Stone hatte sie ihn schon einmal beschritten. Hier hatten sich ihre Wege getrennt, denn Keylam hatte sie rechtzeitig in die Welt der Lebenden zurückgeholt. Damals wie auch jetzt war der Pfad mit Reisenden, die auf die andere Seite wandelten, überfüllt.
Sleipnir schwebte hoch über ihren Köpfen, wo sich Dämonen in den Schatten versteckten und Sterbende unmerklich auf die andere Seite glitten oder gewaltsam ihrer Welt entrissen wurden. So viele waren es in jedem einzelnen Moment. Und der Tod machte weder vor Reichtum noch Armut oder gar dem Alter Halt. In diesem Augenblick blieb nichts vor Arrows Augen verborgen. So sah sie zum Beispiel einen Großvater, der gerade noch fröhlich mit seinen Enkeln spielte – im nächsten Augenblick griff er sich mit schmerzverzehrtem Gesicht an die Brust und glitt wenige Sekunden später auf die andere Seite hinüber. Ein Baby starb der Mutter in den Händen und eine alte Frau ereilte der Tod ganz friedlich im Schlaf. Hier war das Ende allgegenwärtig. Sogar in den Holunderwald hatte Arrow Einblick. Ein Mann, der kaum mehr als Haut und Knochen war, wurde von einem der Dämonen gepackt und davon geschleppt. Seine Schreie hallten noch lange in der Unendlichkeit wider.
Auf der anderen Seite starb ein Mann am Galgen, während seine kleine Tochter herzzerreißend rief, dass er sie nicht verlassen solle. Arrow traf dieses Erlebnis wie ein Schlag. Sie wollte wegschauen, doch als sie ihre Augen schloss, konnte sie noch immer all die traurigen und furchteinflößenden Ereignisse sehen. Erschrocken zuckte sie zusammen.
„Ganz ruhig, mein Herz“, hörte sie die ihre bekannte Stimme in ihr Ohr flüstern. „Bald sind wir da und dann ist es vorbei.“
Verwundert hielt Arrow inne. Das war sie zweifellos – die Stimme aus ihrem Kopf. Nur sprach sie dieses Mal eindeutig nicht aus ihr, sondern von außerhalb.
Als sie sich vorsichtig umdrehte, um einen kurzen Blick zu riskieren, sah sie ihn endlich. Er war bleich und schön und sein Gesicht hatte die Züge eines Edelmannes.
Eingeschüchtert blickte sie wieder nach vorn. Er war es. Das war eindeutig der Mann, der sie in ihren Träumen immer beobachtet hatte. Zwar hatte sie ihn noch immer nicht in seiner absoluten Gänze sehen, geschweige denn betrachten können, doch Zweifel waren ausgeschlossen.
Während Arrow sich ängstlich an Sleipnirs Mähne festhielt, führte der Mann das Ross an den Zügeln. Seine Hände waren schlank und weiß – keine einzige Ader zeichnete sich unter seiner Haut ab. Er trug wohl äußerst kostbare Kleidung, denn der Stoff an den Ärmeln wirkte überaus gepflegt. Die Manschetten des tiefschwarzen Gehrocks waren dezent bestickt und die ebenfalls schwarzen Manschettenknöpfe funkelten wie Diamanten.
„Gibt es eine Möglichkeit, das alles hier nicht mit ansehen zu müssen?“, fragte Arrow scheu.
„Leider nein“, antwortete ihr Begleiter. „Man kann seine Augen vor vielen Dingen verschließen, nur vor dem Tode nicht.“
Arrow zuckte zusammen. Er war
Weitere Kostenlose Bücher