Frühstück im Bett
geklettert, hatte sich an Sugar Beths Fenster gesetzt, ihre Tarytons geraucht und die Jungs beobachtet. »O Sugar Baby«, hatte sie gewispert, »eines Tages wird man dich die Frau des Jahrhunderts nennen.«
»Sugar … Sugar … Sugar …«
Die Frau des Jahrhunderts lenkte ihren verbeulten Volvo in die Mockingbird Lane und betrachtete das französische Kolonialhaus, das der erfolgreichste Zahnarzt von Parrish bewohnt hatte. Jetzt gehörte es Ryan und Winnie. Die letzten zwei Tage hätten gar nicht unerfreulicher verlaufen können. Stundenlang hatte sie sich abgeplagt, um das Kutschenhaus in einen halbwegs erträglichen Zustand zu bringen – und das Lincoln-Ash-Gemälde nirgendwo gefunden. Am nächsten Morgen würde sie die unangenehme Suche fortsetzen. Warum hatte Tallulah ihr keine profitablen Aktien vermacht, statt eines schäbigen Hauses und eines Bahnhofs, den man längst hätte abreißen müssen? Am Straßenende trat sie abrupt auf die Bremse. Im Scheinwerferlicht des Volvos entdeckte sie etwas, das zuvor nicht existiert hatte. Über ihre holprige Zufahrt spannte sich eine schwere Kette. Nur knapp zwei Stunden war sie weg gewesen. Also hatte jemand blitzschnell gearbeitet. Sie
stieg aus dem Auto, um das Hindernis zu inspizieren. Offensichtlich hatte schnell bindender Zement seine Funktion erfüllt. Denn die beiden Pfosten, an denen die Kette befestigt war, widerstanden Sugar Beths kraftvollen Fußtritten. Hatten die neuen Besitzer von Frenchman’s Bride nicht verstanden, dass diese Zufahrt nicht zu ihrem Anwesen gehörte?
Deprimiert versuchte sie sich einzureden, es wäre besser, wenn sie die Leute erst am nächsten Morgen zur Rede stellte. Aber sie hatte auf die harte Tour gelernt, Schwierigkeiten nicht auf die lange Bank zu schieben. Also wagte sie sich zum Eingang des Hauses, in dem sie aufgewachsen war. Sogar mit verbundenen Augen würde sie die vertraute Anordnung der Fliesen unter ihren Füßen wiedererkennen, die Stelle, wo der Weg bergab führte, die Biegung um die Wurzeln der Eiche herum. Als sie sechzehn gewesen war, hatte ein Gewittersturm den alten Baum gefällt. Langsam näherte sie sich der Veranda mit den vier anmutigen Säulen. Wenn sie mit einem Finger über das Fundament der vordersten Säule strich, würde sie ihre Initialen finden, die sie mit dem Schlüssel zu Diddies Eldorado eingeritzt hatte.
Drinnen schimmerte Licht. Sugar Beth versuchte ihre Magenbeschwerden auf die unzulänglichen Mahlzeiten zurückzuführen. Doch sie wusste es besser. Vor der Fahrt in die Stadt hatte sie sich bemüht, ihr Selbstvertrauen mit einem bonbonrosa T-Shirt, das ein paar Zentimeter ihres Bauchs zeigte, und hautengen Hüftjeans zu stärken. In ihren schwarzen Stilettos war sie fast eins achtzig groß. Mit einer schwarzen Motorradjacke hatte sie das Ensemble vervollständigt. Dazu trug sie erbsengroße falsche Diamantohrstecker, den Ersatz für die echten, die sie verkauft hatte. Aber jetzt verfehlte das Outfit den angestrebten Zweck einer moralischen Unterstützung. Als sie die Veranda überquerte, klackerten die hohen Absätze den Rhythmus einer schmerzlichen Erinnerung auf das Holz. Sugar Beth Carey – wohnt – hier – nicht – mehr.
Die Schultern gestrafft, hob sie das Kinn und drückte auf
den Klingelknopf. Statt der vertrauten Melodie aus fünf Tönen hörte sie einen dröhnenden Gong. Nur zwei Töne. Mit welchem Recht hatte der neue Besitzer die Glockenklänge von Frenchman’s Bride geändert? Die Tür öffnete sich, und ein Mann stand vor ihr. Hoch gewachsen. Gebieterisch. Seit damals waren fünfzehn Jahre vergangen. Trotzdem erkannte sie ihn, noch bevor er zu sprechen begann.
»Hallo, Sugar Beth.«
»Zitterst du?«, fragte die verhasste Stimme.
»Wenn du dich nicht benimmst,
schlage ich dich.«
Eskapaden, von Georgette Heyer
2
K rampfhaft schluckte sie und würgte hervor: »Mr Byrne?« Die schmalen, verkniffenen Lippen bewegten sich kaum. »Ganz recht, Mr Byrne.«
Mit einiger Mühe rang sie nach Atem. Dass er der neue Besitzer von Frenchman’s Bride war, hatte Tallulah ihr nicht verraten. Sie hatte ihr lediglich mitgeteilt, was die Nichte nach ihrer Meinung erfahren sollte. Die Zeit drehte sich zurück. Zweiundzwanzig. So alt war er gewesen, als sie – fast noch ein Kind – seine Karriere zerstört hatte.
So seltsam hatte er damals ausgesehen, wie die Disney-Figur Ichabod Crane – zu groß, zu dünn, die Nase zu lang, alles an ihm zu exzentrisch für eine kleine Stadt im
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