Frühstück mit Kängurus
ü ber gelesen haben. Wann haben Sie das letzte Mal in irgendeinem Zusammenhang mit der Verbreitung des Menschen und dem Entstehen von Zivilisationen auch nur eine fl ü chtige Bemerkung zur Rolle der Aborigines gelesen?
Sie sind - Olympische Spiele hin oder her - das unsichtbare Volk auf unserem Planeten.
Das mag zum Großteil daran liegen, dass wir es mit einer außerordentlich langen Zeitspanne zu tun haben. Nehmen wir rein theoretisch mal an, dass die Aborigines vor sechzigtausend Jahren angekommen sind. (Diese Zahl nennt Roger Lewin aus Harvard in Der Ursprung des Menschen, einem Standardwerk.) Gemessen daran stellt die Periode der europäischen Besiedlung Australiens etwa 0,3 Prozent der Gesamtzeit dar. In anderen Worten: Während der ersten 99,7 Prozent seiner Geschichte als von Menschen bewohnter Erdteil gehörte Australien den Aborigines allein. Sie sind seit einer unbegreiflich langen Zeit dort. Und auch das ist eine Leistung, die von niemandem anerkannt wird.
Mit der Ankunft der Aborigines in Australien fängt die Geschichte natürlich erst an. Die Menschen mussten ja auch leben lernen in der neuen Umgebung. Doch mit erstaunlicher Schnelligkeit verbreiteten sie sich und entwickelten Strategien und Verhaltensmuster, mittels derer sie sich jede noch so extreme Landschaft, vom nassesten Regenwald bis zur trockensten Wüste, nutzbar machten beziehungsweise sich ihr anpassten. Kein Volk auf Erden lebt derart erfolgreich und lange in so verschiedenen Umwelten. Wenigstens wird jetzt allgemein anerkannt, dass die Aborigines die älteste ununterbrochen fortlebende Kultur besitzen. Manche Forscher - darunter der angesehene Prähistoriker John Mulvaney - glauben auch, dass die australische Sprachfamilie die älteste der Welt ist. Kunst, Geschichten und Glaubensformen der Aborigines gehören ohne jeden Zweifel zu den ältesten der Welt.
Auch das sind ganz offensichtlich bedeutende, einzigartige Leistungen und der Beweis dafür, dass die ersten Aborigine-Völker zu einem viel früheren Zeitpunkt als bisher vermutet eine eigene Sprache besaßen und sich untereinander austauschten, dass sie fortgeschrittene Techniken anwandten und organisatorische Fähigkeiten entwickelten. Und wie viel Beachtung schenkt man diesen Errungenschaften? Wiederum: bis vor kurzem buchstäblich keine. Das wurde mir einmal mehr, wenn auch unerwartet, mit aller Macht klar, als ich von Alan und Carmel aus nach Sydney geflogen war und einen Nachmittag in der Staatsbibliothek von New South Wales verbrachte. Auf der Suche nach etwas vollkommen anderem stieß ich nämlich auf die Larousse Encyclopedia of Archaeology von 1972. Neugierig zu erfahren, was sie zu dem Fund am Lake Mungo drei Jahre zuvor zu sagen hatte, nahm ich sie aus dem Regal und schaute hinein. Sie erwähnte sie mit keinem Wort. Das heißt, sie erwähnte die Ureinwohner Australiens ohnehin nur ein einziges Mal, und zwar mit folgendem Satz: »Auch die Aborigines entwickelten sich unabhängig von der Alten Welt, aber sie stehen für eine sehr primitive technische und ökonomische Phase.«
Das war's - das war der gesamte Beitrag zur Diskussion der indigenen australischen Kultur, geführt in einem gelehrten Band von einigem Gewicht und einiger Autorität, geschrieben im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn ich sage, die Aborigines sind das unsichtbarste Volk der Welt, dann glauben Sie mir, das stimmt. Doch die wahre Tragödie ist, dass es dabei nicht bleibt.
Von der ersten Begegnung an waren die Eingeborenen für die Europäer Quell tiefster Verwunderung. Als James Cook und seine Männer in die Botan Bay segelten, waren sie verblüfft, dass die meisten Leute, die sie da am Strand sitzen oder von zerbrechlichen Kanus aus im Flachwasser fischen sahen, sie fast nicht zu beachten schienen. »Kaum, dass sie den Blick von ihrem Tun erhoben«, berichtete Joseph Banks. Die Endeavour war garantiert das größte und ungewöhnlichste Gebilde, das den Aborigines je vor Augen gekommen war, doch die meisten blickten nur kurz auf, schauten es an, als sei es eine vorbeiziehende Wolke, und wandten sich wieder dem zu, was sie gerade taten.
Offensichtlich betrachteten sie die Welt nicht so wie andere Menschen. Keine ihrer Sprachen kannte zum Beispiel ein Wort f ü r » gestern « oder » morgen « , ungew ö hnliche Leerstellen in jeder Kultur. Sie hatten keine H ä uptlinge oder sonstige Regierungsinstitutionen, trugen keine Kleidung, bauten keine H ä user oder andere dauerhaften Geb
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