Fruehstueck mit Proust
beschwichtigende Geste.
»Soweit ich weiß, gibt es in Paris große Krankenhäuser, sollte es mir also mal nicht gutgehen, sollte meine Gegenwart für Jade eine Belastung werden, haben wir immer noch genug Zeit, andere Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Für den Moment, meine Liebe (Jade hätte »meine Furie« angemessener gefunden, aber Mamoune blieb vollkommen ruhig), kannst du deiner alten Mutter noch einmal glauben, dass sie allein über ihr Leben entscheiden kann. Ich bin nicht sicher, ob es so gut ist, dass unsere Beziehung von Entscheidungen beeinflusst wird, die dein Beruf dir auferlegt. Du bist meine Tochter, und an dem Punkt, an dem wir nun angekommen sind, wäre es mir lieber, du wärst nicht gleichzeitig meine Ärztin. Damit du bis zum Ende die Erinnerung aneine Mutter bewahren kannst, die nicht vom Bild einer Patientin verdrängt wird.«
Mamoune wählte ganz andere Wörter, bildete längere Sätze als sonst. Weit entfernt von ihrer gewohnten, etwas unbeholfenen Herzlichkeit trat sie mit eisiger Klarheit und Entschiedenheit auf, sie hatte sich geradezu in eine Aristokratin verwandelt, die ihre Wünsche mitteilte. Sie hatte sich erhoben und stand aufrecht vor Denise, die sitzen geblieben war. Ihre Hände ruhten auf einer Stuhllehne, und ihre Fingerknöchel verkrampften und lösten sich im Rhythmus ihrer Rede. Jade war sogar darauf gefasst, dass sie Denise am Ende noch
ma chère enfant
nennen würde.
»Wenn du selbst einmal alt bist, wirst du mich sicher verstehen. Unser Leben ist aufgebaut wie eine Reihe von Inseln, die durch Brücken miteinander verbunden sind. Diese Brücken habe ich fast alle überschritten. Und da mir in dem Alter, das ich nun habe, einige dieser Inseln nicht mehr zugänglich sind, werden meine Erinnerungen, je weiter ich gehe, immer wichtiger. Ich glaube, im Alter selbst bestimmen zu können, wo und mit wem man leben möchte, ist die letzte Würde, die einem bleibt … Bis uns schließlich auch diese Entscheidung nicht mehr zugestanden wird. Um es also auf den Punkt zu bringen: Deine Freiheit über mich beginnt, wenn ich senil geworden bin, und der Tag ist noch nicht gekommen.«
Mamoune legte eine Pause ein, als versuchte sie sich in diese Zeit des Ausgeliefertseins hineinzudenken. Denise war bleich geworden, sie hatte sich erhoben und wieder hingesetzt angesichts der Gedankenflut dieser Unbekannten, die sie nie hinter dem friedlichen Gesicht ihrerMutter vermutet hätte. Ihre Mutter, Jeanne, Mamoune, war doch eine einfache Frau, eine Bäuerin, deren Worte den Alltag begleiteten … Wer aber war diese Frau, die da erklärte, sie habe ihr Leben und ihre Zukunft in die eigene Hand genommen? Mamoune setzte ihre Rede fort, ohne sich auch nur im Geringsten um den erstaunten Blick ihrer Tochter zu kümmern.
»Es gibt keine unschuldigen Entscheidungen, wenn Kinder die Rolle ihrer Eltern übernehmen. Ich bin euch kein Refugium mehr, sondern eine Last. Und Jade hat beschlossen, sich um mich zu kümmern, denn wie du weißt, habe ich sie nie um etwas gebeten. Was soll schon groß passieren, wenn wir es eine Zeitlang miteinander probieren? Ich jedenfalls bleibe bei meiner Entscheidung. Das müsst ihr wissen, deine Schwestern und du. Ich bleibe bei Jade.«
In diesem Moment verirrte sich ein Schmetterling ins Zimmer, und da sie in Paris so selten sind, konnte Jade nicht umhin, ein Zeichen darin zu sehen. Es war schwer zu sagen, ob Denise ihn wahrnahm, jedenfalls warf sie einen benommenen Blick auf die fröhlichen Luftsprünge des Insekts, sah dann wieder mit gerunzelter Stirn zu ihrer Mutter und fragte sich, was ihr wohl entgangen sei in all den Jahren neben ihr. Sie schwieg einen langen Moment, nachdem Mamoune geendet hatte. Jade erlebte zum ersten Mal, wie ein für den Gegner völlig unerwarteter Sprachgestus dessen Aggressivität und Wut mindern kann. Sie unterdrückte ein nervöses Lachen, das in ihr aufsteigen wollte. Hatte Mamoune ihren Text auswendig gelernt, oder war er ihr spontan eingefallen?
Sie musste lächeln bei dem Gedanken, dass Denise sich wohl oder übel ein neues Bild von ihrer Mutter machenmüsste, weil sie so vieles über sie nicht wusste. Woher sollte Denise auch etwas von Mamounes philosophischen Kenntnissen ahnen, wo sie doch immer dachte, ihre Mutter wisse nicht einmal, was das Wort bedeutet? Ihr Gesicht, ihr hübsches Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem – abgesehen von der operierten Nase, hätte Mamoune gesagt – tadellosen Profil war wie eine
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