Fruehstueck mit Proust
übernachtete. Das war vermutlich das Einzige, was so lief, wie sie es geplant hatte. Jade hatte während des Essens ein paar flüchtige Blicke auf das Gesicht ihrer Tante geworfen und festgestellt, dass sie noch immer unter dem Schock des Monologs ihrer Mutter stand. Kein Wunder. Mamoune hatte so selbstsicher und perfekt gesprochen, dass auch Jade fast den Eindruck hatte, sie habe einen Teleprompter benutzt. Sie hatte noch nie erlebt, dass ihre Tante so hilflos wirkte und ihre Großmutter in so majestätischer Würde erstrahlte. Die Anekdoten, die Mamoune nun in ihrer gewohnten Art erzählte, um die Stimmung bei Tisch aufzuheitern, mussten Denise in noch größere Ratlosigkeit stürzen. Sie schien in einem unendlichen Nebel zu treiben. Jade war über die Kapitulation ihrer Tante erleichtert und freute sich darauf, ihrem Vater mitteilen zu können, dass der furchtbare Streit im Keim erstickt worden sei, und das allein durch einen Theatercoup von Mamoune. Der Alptraum dieses Tages hatte sich in Luft aufgelöst. Und was hatte sie für eine Angst gehabt, ihre Entführung rechtfertigen zu müssen und doch keine Argumente zu haben, um Mamoune vor diesem Sterbeheim zu bewahren!
Ihre Großmutter hatte nichts von ihrer inneren Verfassung nach außen dringen lassen, und jedes Mal, wenn Jade beim Abendessen zu ihr hinüberschaute, schenkte sie ihr das wohlwollende Lächeln, das sie von jeher an ihrkannte. Als sie sie an diesem Abend wieder in ihrer alten Rolle sah, bekam sie eine Ahnung davon, wie sehr Mamoune sich bereits daran gewöhnt hatte, die andere, die feinsinnige und tiefgründige Frau zu verstecken, die in einem Augenblick der Empörung aus ihr herausgebrochen war. Und wenn diese andere, die ihr ganzes Leben im Verborgenen verbracht hatte, nun die echte Mamoune war?
Um den Familienzwist nicht noch mit Siegesgebärden zu vertiefen, hatte Jade ihre Tante zum Abschied herzlich umarmt, ihr versprochen, sie regelmäßig mit Neuigkeiten zu versorgen und sie im Notfall sogar als Erste zu informieren. Aber Denise hatte in barschem Ton erwidert, ihre Mutter habe recht, es gäbe ja hervorragende Krankenhäuser in Paris. Währenddessen tat Mamoune so, als interessiere sie sich für die exotischen Gegenstände in dem Schaufenster, vor dem sie standen. Dann winkte Denise ein Taxi heran. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange ihrer Mutter, keiner für die Nichte, und ohne sich zum Abschied noch einmal umzudrehen, war sie in der noch immer nicht ganz dunklen Nacht verschwunden.
Bald feiern wir Saint-Jean, murmelte Mamoune. Jade musste lächeln. Sie wusste, dass dieses Tanzfest auf dem Lande zur Jugendzeit ihrer Großmutter für sie eine schöne Erinnerung war. Zärtlich legte sie den Arm um ihre Schultern.
»Du musst mir unbedingt von den Bällen in deiner Jugend erzählen. Ich kann dich mir gar nicht richtig in einem weißen Kleid vorstellen, wie du den Jungs aus dem Dorf den Kopf verdrehst.«
Ihre Großmutter lachte.
»Oh, ich war nicht so schüchtern, wie du denkst. Ichwar auch einmal jung und nicht schon immer die weise Großmama. Ich war nicht anders als du.«
In Mamounes Augen war es nicht die Jugend, die mit dem Lauf der Zeit verging, sondern eine bestimmte Art, sie zu betrachten.
»Das Feuer, das uns einmal verzehrt hat, ist auch in einem alten Körper nie vollständig erloschen. Das macht den Blick, mit dem man auf unser Alter schaut, so ungerecht, weißt du? Da empört man sich, dass dieser Körper nicht mehr den stürmischen Regungen des Begehrens folgt. Schritt für Schritt gehen wir unseren Weg. Darum geht es, meine Liebe. Nicht zu sterben, sondern auch als alter Mensch noch zu leben! Nicht der Körper hat das Sagen. Erst wenn die Seele sich nicht mehr das Vergnügen gönnt, trotz der Bürde des Alters noch etwas zu wollen, geht alles zu Ende. Seit ich bei dir wohne, muss ich mich nicht mehr großartig anstrengen, um mein Alter zu vergessen. Daraus schließe ich, dass ich mich wohl verjüngt habe!«
»Das stimmt. Sieh dich doch an, Mamoune, du wirkst jünger als Denise!«
Jade hatte das Gefühl, etwas Verkehrtes gesagt zu haben. Ein Hauch von Traurigkeit legte sich über die Augen der Großmutter. Dann nahm sie wieder ihre sanftmütige Miene an und gab ihr wortlos zu verstehen, dass auch eine Mutter an ihre Grenzen stößt. Ihr von einem langen Seufzer begleitetes Schulterzucken aber hatte Jade einen unangenehmen Schauer eingejagt. War man wirklich so machtlos, die Menschen zu begleiten, die man auf die Welt
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