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Fruehstueck mit Proust

Fruehstueck mit Proust

Titel: Fruehstueck mit Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frédérique Deghelt
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überquerten. Ich hätte meine Denise fast nicht erkannt, so aufgeblüht erschien sie, aber ich habe ihr natürlich nichts davon erzählt. Vor allem nicht, weil sie mit diesem anderen viel besser harmonierte als mit dem trostlosen Klinikdirektor, der der Vater ihrer Kinder war. Ach, Denise! Immer mit dem Kopf durch die Wand, wenn es darum geht, recht zu haben und ihr Leben oder das der anderen nach ihrem Gutdünken zu bestimmen.
    Sie hat noch tausend andere, mir fremde Gesichter, die mich aber nicht verwundern könnten, denn ich weiß, wie unwissend ich bin. Wir sind blind, in den Menschen, die uns am nächsten stehen, sehen wir immer nur, was wirvon ihnen zu wissen glauben. Wie oft lassen wir uns täuschen von den Etiketten, die wir unseren Freunden oder Verwandten irgendwann einmal aufgeklebt haben? Warum nur wollen wir die Wandlungen und Wendungen, die uns Menschen ereilen und uns verändern, nicht zur Kenntnis nehmen?
    Denn das ist es, was meiner Tochter heute Abend passiert ist: Ihre Mutter hat sich ihr entzogen. Sie ist gekommen, sie zurückzuholen, ohne zu bedenken, dass ihre Flucht ja nicht erst vor ein paar Tagen stattgefunden hat. Die Frau, die geflohen ist, zeigt sich nun als eine andere, von der sie nichts wusste. Mit siebenundfünfzig muss sie, die sich schon mit fünfzehn für erwachsen hielt, entdecken, dass sie in der Welt eines kleinen Mädchens lebt. Bin ich dafür verantwortlich? Ein bisschen schon. Ich habe sie nicht entschieden genug aus ihren Illusionen gerissen. Vor langer Zeit habe ich einmal versucht, ihr nahezulegen, sie möge nicht immer so streng urteilen. Du wirst schon sehen, sagte ich. Wart’s ab … Aber sie wischte meine Beschwörungen mit einer Handbewegung fort. Schon mit sechs Jahren glaubte sie nichts mehr von dem, was mein Mann und ich ihr sagten. Die Einzige, die sie ab und zu bremsen konnte, war ihre vier Jahre ältere Schwester Mariette. Mariette ist mollig und bezaubernd, so klein, wie Denise groß ist, und die anmutigste meiner Töchter. Sie hat braune Locken, ein fröhliches Wesen und einen sinnlichen Mund, und Denise war schon immer fasziniert von ihrer schnellen Auffassungsgabe: schon früh in ihren Spielen und später mit ihrem analytischen Scharfsinn, den sie in den unterschiedlichsten Situationen bewies.
    Anders als ihre kleine Schwester hat Mariette einGespür für andere Menschen. Nur sie hat die Veränderung wahrgenommen, die sich in mir vollzog, als ich mich auf die Welt der Bücher einließ. Schon als kleines Mädchen sah sie mich mit dieser forschenden Miene an, und später hätte sie mir am liebsten tausend Fragen gestellt. Was würdest du machen, wenn … Was denkst du über diesen und jenen und über folgende Situation? Und die Mutter von A hat gesagt, der Vater von B wäre … Ich habe versucht auszuweichen. Ich mochte weder Tratsch noch Lästerei, die sich auf dem Umweg über die Kinder unaufhaltsam ausbreiteten und unglückselige Wendungen nahmen.
    Aber Mariette verbreitete keine Gerüchte. Sie forschte. Sie wollte herausfinden, was diese Mutter, die ihr ihre ganze Liebe, aber nur einen Bruchteil ihres eigenen Ichs schenkte, wohl zu verbergen hatte. Sie ahnte einen doppelten Boden, drängte mich, die Schicksale aus Tinte und Papier zu enthüllen, die meinen Blick auf das wahre Leben schärften. Ich erkannte in ihr die Enkelin meiner Mutter wieder, der Hebamme des Teufels, die der Frau mit Geist, die sich in mir verbarg, schon geholfen hätte, das Licht der Welt zu erblicken. Mariette belauerte mein Schweigen und war begierig, das Geheimnis aufzudecken, das ihre Intuition ihr einflüsterte. Das war mehr, als ich ihr geben konnte. Ich war eingemauert in meiner Lüge. Zum Glück setzte Léa, meine zweite Tochter, mir nicht so zu wie ihre Schwester. Sie war unabhängiger und gleichgültiger. Äußerlich ähnelte sie Serge. Groß, blond, sportlich und genauso verschlossen wie ihr Vater. Sie waren alle drei vorzügliche Skiläuferinnen und verbrachten im Winter jede freie Minute am Hang. Rückblickend weiß ich es zu schätzen, dass sie trotz ihrer so unterschiedlichenCharaktere in dieser Landschaft etwas Gemeinsames fanden. Wenn sie mit glühenden Gesichtern heimkehrten, waren sie ein Herz und eine Seele und vergnügt. Ich machte ihnen Crêpes oder eine
tartiflette
aus Kartoffeln und Käse, die wir gemeinsam aßen. So viel Harmonie muss einen doch nostalgisch werden lassen, oder?

 
    N ach dem Abendessen fuhr Denise zu einer Freundin, bei der sie

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