Fruehstueck mit Proust
mich im Alter von fünfundzwanzig Jahren gekostet hatte, mich in die Welt der Bücher vorzuwagen,nicht mehr mit dem Finger die Zeilen entlangzufahren und schließlich solchen Gefallen daran zu finden, dass ich meine Jahre in der Schule vergaß, wo ich das Alphabet so schlecht gelernt hatte. Ja, ich habe schon immer die Buchstaben verwechselt, wenn ich das Wörterbuch durchblätterte, und das, obwohl ich Hunderte von Wörtern darin gesucht habe! Bis ich vor lauter Scham über mein beschränktes Vokabular schließlich das Wörterbuch zu einem meiner Lieblingsbücher erwählte. Wenn ich morgens um fünf Uhr meinen ersten Kaffee trank, lernte ich unbekannte Wörter und notierte mir ihre Bedeutung auf kleine Zettel, die ich mir in die Schürze steckte. Die las ich mir mehrmals am Tag durch, sog ihren Klang und ihren Sinn in mich ein, um sie im Gedächtnis zu bewahren. Wenn es Abend war, warf ich die Zettel in den Kamin. Mit einigen dieser Wörter verbinde ich noch heute die Verrichtungen und Umstände eines ganz bestimmten Tages. »Apokryphen« bezeichneten für mich ebenso von der Kirche nicht anerkannte Bibeltexte wie feuchte, nach Lavendel duftende Laken, die ich an einem Julitag unter der bleischweren Sonne ausbreitete. Und »Roquentin«, der lächerliche alte Kauz, der den Jüngling spielt, hinterließ seinen Abdruck auf einer Lauchtorte, eines Sonntags im August, an dem der Himmel sein gesamtes Wasser über meine frisch gepflanzten Herbsttulpen ergoss. Und was soll ich erst zu »Felonie«, zu »Kontingenz« oder »wesenhaft« sagen, die sich für mich in Sommerabende zur Mückenzeit verwandeln?
E s war noch früh. Zu früh für einen versauten Tag wie diesen, dem sie am liebsten entflohen wäre. Jade beschloss, mit dem Bus quer durch die Stadt zu fahren, dann konnte sie in Ruhe über Mamoune nachdenken, bevor sie ihr gegenübertrat. Hatte sie ihr Manuskript angerührt? Ein paar Abschnitte gelesen? Vielleicht das Ende? Nein, das Ende durfte man nicht zuerst lesen …
Sie grübelte noch immer über die ärgerlichen Ereignisse des Vormittags nach, und zu Beginn der Fahrt hatte sie kaum Augen für die Umgebung, erst hinter dem Pont-Neuf konzentrierte sich ihr Blick wieder auf die großen Alleen und die zu Frühlingsbeginn erblühten Parks und Blumenbeete. Seit sie mit Mamoune zusammenlebte, sah sie alle Grünflächen in der Stadt mit anderen Augen. Dabei hatten diese Sträucher, die, der Geradlinigkeit französischer Parks folgend, quadratisch zurechtgestutzt waren, doch gar nichts »Mamounehaftes«. Mein Gott, was für eine unglaubliche Geschichte, dass diese Großmutter sich zum Lesen hinter ihrer Bibel versteckt hatte und mit ihren Liebhabern aus bedrucktem Papier durch die Berge gestreift war! Jade erinnerte sich noch an den Tag, als sie Mamoune von
Onkel Toms Hütte
erzählt hatte. Sie war fasziniert gewesen von diesen Schwarzen, die alles daransetzten, heimlich lesen zu lernen und andere Dinge zu erwerben, die die Weißen ihnen verwehrten. Während sie darüber sprach, sah sie mit Verwunderung, wie eine Träne über die Wange ihrerGroßmutter lief, doch Mamoune zeigte auf das Gemüse, das sie gerade schälte. Heute verstand Jade, warum sich ihr dieses Bild trotz der Ausrede mit den Zwiebeln eingeprägt hatte. Vielleicht hatte sie damals instinktiv begriffen, dass Mamounes Tränen sehr wohl etwas damit zu tun hatten, dass auch sie sich ihre Bildung heimlich erkämpfen musste.
Gedankenversunken streifte ihr Blick die Gebäude, die Straßen, durch die sie fuhr, Viertel, in denen sie jahrelang nicht gewesen war. Das machte den Reiz der Großstadt aus. An bestimmte Orte zurückzukehren, die man einmal gekannt hatte, darin lag unwillkürlich auch der Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu können, Spuren der eigenen Vergangenheit wiederzufinden. Woher kam Jades Vorahnung, dass ihre Zukunft sich in Tausenden von Kilometern Entfernung abspielen würde? War es nicht dieselbe Abenteuerlust, die sie bewogen hatte, Julien zu verlassen? Sich gegen das trostlose Versinken im Vorhersehbaren aufzulehnen? Alles quälte sie auf einmal viel mehr, als ihr lieb war. Und das wunderte sie. Sie befand sich an einem Wendepunkt und wusste nicht einmal, auf welchen Weg sie geraten war. Alles überstürzte sich in ihrem Kopf: die Sorge um Mamoune, die Angst, einen Fehler begangen zu haben, als sie ihr das Manuskript anvertraute, auf beruflicher Ebene das Gefühl, verraten worden zu sein … Und nun auch noch diese Begegnung, in die sie
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