Fruehstueck mit Proust
viel zu viel hineininterpretierte, die ihr aber deutlich zeigte, dass sie so kurz nach der Trennung von einem Mann noch längst nicht von der Liebe kuriert war.
Nicht einmal diese angenehme Spazierfahrt konnte Jades Beklemmungen vertreiben. Eine Unruhe war inihr, ja beinahe Furcht, deren Ursprung sie nicht kannte. Und plötzlich hatte sie das Bedürfnis, schneller nach Hause zu fahren als geplant. Sie kaufte ein bisschen Gemüse, kein Fertiggericht; wer weiß, es war Mamoune zuzutrauen, dass sie wieder eines ihrer berühmten Überraschungsdiners zubereitet hatte. Sie stieß die Tür auf und rief: »Ich bin’s, Mamoune!« Als sie in die Küche ging, um die Einkäufe loszuwerden, sah sie eine Tasche und eine Jacke im Flur liegen.
Im Wohnzimmer erblickte sie sofort ihre Tante Denise, sie saß auf dem Sofa und hatte eine strenge, fragende Miene aufgesetzt. Jade fand, dass sie gealtert war seit ihrer letzten Begegnung, die mindestens ein Jahr zurücklag. Distanziert wie immer, trug sie ein schwarzgraues Kostüm, das ihre schmale Gestalt noch mehr in die Länge zog. Die Haare hatte sie sich ganz kurz schneiden lassen, und sie färbte sie rabenschwarz, was ihre harten Gesichtszüge noch unterstrich. Mamoune stand in einer Ecke des Zimmers und sah aus wie ein kleines Mädchen. Sie spielte mit den Perlen einer Halskette, die sie trug, seit Jade sie entführt hatte. Vorher hatte Jade sie nie an ihr gesehen. In ihrem Blick nahm sie eine Spur von Erleichterung wahr.
Denise hatte einundzwanzig Tage gebraucht, um aufzutauchen. Jener verdammte Tag hatte also immer noch kein Ende! Jade umarmte sie zur Begrüßung und bot ihr etwas zu trinken an. Die Tante lehnte ab, und Jade bemerkte die Ungeduld in ihrer gebieterischen Stimme. Sie habe bereits ein Glas Wasser getrunken. Mamoune hatte also schon Zeit gewonnen! Doch Denise hatte es sichtlich eilig, das Thema anzuschneiden, dessentwegen sienach Paris gekommen war. Um sich einen kurzen Augenblick des Nachdenkens zu verschaffen, verschwand Jade mit der Ausrede, es sei aber immerhin Zeit für einen Aperitif, in der Küche. Als sie mit dem Tablett zurückkehrte, auf dem eine Schale mit Oliven, eine Flasche Rosé und drei Gläser standen, war sie bereit für das Gespräch. Sie schenkte Mamoune ein, die sich mit einem komplizenhaften Lächeln bedankte. Denise verzog das Gesicht, schloss sich aber an und nahm ein halbes Glas. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und ging zum Angriff über, indem sie beschrieb, wie enttäuscht sie gewesen sei, als sie die Abwesenheit ihrer Mutter bemerkt habe, welche Ängste sie ausgestanden habe … Diese Ängste konnten ja nicht lange gedauert haben, dachte Jade, die wusste, dass ihr Vater Serge seine Schwester aus Polynesien angerufen hatte, um ihr zu sagen, wohin Mamoune sich geflüchtet hatte. Dann schimpfte sie weiter, die Situation wäre so einfach gewesen, hätte Jade, die keine Ahnung von der Betreuung älterer Menschen habe, ihre Fürsorge für die Mutter nicht in Frage gestellt. Diese kindische Aktion gegen ihren medizinischen Rat und den ihrer Schwestern, die diese Verantwortung mit ihr teilten, sei lächerlich. Kurz, der ganze Groll, der sich in den drei Wochen des Schweigens bei ihr angestaut hatte, entlud sich, und Jade ließ sie reden, weil sie wusste, dass es ihr leichter fallen würde zu antworten, wenn Denise alles ausgespuckt hatte. Als Denise zu Ende gesprochen hatte, ergriff zu ihrer großen Überraschung Mamoune das Wort:
»Denise, meine Kleine, niemand wollte sich gegen deine Entscheidung oder die deiner Schwestern stellen.«
Mamoune war sich bestimmt nicht bewusst, dass man diese Formulierung unterschiedlich interpretieren konnte.
»Ihr seid meine Töchter«, fuhr sie fort, »und ihr habt getan, was euch als das Beste für mich erschien. Alles ging so schnell, und ich hatte keine Gelegenheit, euch zu sagen, wie ich selbst darüber dachte. Da mich keine von euch zu sich nehmen kann und ich noch nicht völlig verkalkt bin, hielt ich es für mein gutes Recht, den Vorschlag meiner Enkeltochter anzunehmen, der kurzfristig und spontan kam.«
Eine Woge der Aggression brach aus Denise heraus. Alles warf sie in die Waagschale: Mamounes Zustand, das Risiko, das eine Unterbringung ohne ärztliche Begleitung bedeutete, die Entfernung von ihrem Zuhause, ihrem Arzt, ihrer Familie, und sie vergaß nicht, das verantwortungslose Verhalten ihrer Nichte und den Leichtsinn ihrer Mutter anzuprangern. In dem Moment machte Mamoune eine
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