Fruehstueck mit Proust
aufbrechen? Beim Lesen und in diesem Traum war sie zu erahnen, aber sonst verriet nichts die schlummernde Abenteurerin. Ich bereue nichts. Ich war glücklich mit diesem einfachen Leben neben einemMann, der genau zu mir passte. Ich ging völlig auf in den vielen Kindern, die zu mir kamen. Ich begleitete sie in den Jahren, in denen die Erwachsenen das Ausmaß der Verheißungen nicht immer zu erkennen schienen, die in ihnen schlummerten. So hatte ich den Eindruck, die Hüterin eines Schatzes zu sein. In dieser Hinsicht waren die Kinder genauso geheimnisvoll und spannend wie die Romane, von denen ich mich mitreißen ließ. Sie waren wie unbeschriebene Seiten, auf denen noch alle Geschichten möglich waren. Sie waren unendlich viele Leben, und manchmal stellte ich sie mir, mit dem Gesicht, das ich von ihnen kannte, in den verschlungenen Abenteuern vor, die sie noch schreiben würden … Wenn ich heute an diese Kleinen zurückdenke, sage ich mir … Mmh … sage ich mir … Na, so was … Ich weiß es nicht mehr … Ärgerlich! Wie gestern, schon wieder ist mir zwischen dem Küchentisch und dem kleinen Sekretär im Flur ein Gedanke entfallen. Ich habe immer das Gefühl, man brauchte nur den Weg zurückzugehen, um ihn wiederzufinden, als sei er heruntergefallen und würde noch dort auf dem Fußboden liegen.
Manchmal frage ich mich, wozu es gut ist, dass alte Erinnerungen plötzlich so anschaulich wiederkehren, wenn man gleichzeitig vergisst, was gerade gestern war. Es ist wie mit den Zugvögeln. Die sagen auch nicht Bescheid, wann sie zurückkehren. Wenn sie vorüberziehen, beobachtet man voller Rührung jedes Detail. Und dann ist es vorbei.
Die Schicksale der Helden aus Papier, über die ich auf Tausenden von Seiten gelesen habe, haben mich gelehrt, dass man keine Angst haben muss, die Vergangenheit heraufzubeschwören. Nur so kann man verstehen, wieBegebenheiten sich ineinander verweben und zu dem Faden spinnen, der in die Gegenwart führt. Unsere Leben als Eltern, Vorfahren und Kinder türmen sich übereinander in der Unwissenheit, die ein jeder in aller Gelassenheit über die Geschichte des anderen hegt. Und das ist es vielleicht, was Jade und ich in unserem merkwürdigen Zusammenleben mit einigem Glück praktizieren: dass wir uns gegenseitig mit großer Neugier entdecken, über alles hinaus, was wir bisher voneinander zu wissen glaubten.
J ade musste nicht lange warten. Schon am späten Vormittag rief die Chefredakteurin an und bat sie mit zuckersüßer Stimme, doch mal einen Blick auf die Recherchen der jungen Kollegin zu werfen, die sich mit der Polygamie befasste … Jade stritt nicht gern am Telefon. Auseinandersetzungen trug sie lieber Aug in Auge aus. Sollte der Ton während der Diskussion schärfer werden, würde sie der Chefin schon zu verstehen geben, dass sie kein Hampelmann war. Sie war nicht bereit, jemandem bei einem Artikel unter die Arme zu greifen, der ursprünglich ihre Idee gewesen war und den sie über ihren Kopf hinweg vergeben hatten.
In der Metro vergaß sie ihren Groll einen Augenblick und lächelte bei dem Gedanken, an welcher Station der schwedische Inder eigentlich eingestiegen war. Ich führe mich auf wie ein Teenager!, dachte sie und rechnete nach, dass anderthalb Stunden dazwischenlagen. Die Chancen, dem Zufall auf die Sprünge zu helfen, wie er es gestern angeregt hatte, standen also schlecht! Als sie den Vortag noch einmal Revue passieren ließ, fiel ihr auch ein, dass sie es völlig versäumt hatte, mit Mamoune über ihr Manuskript zu reden, obwohl sie es gefunden haben musste, denn es lag nicht mehr auf dem Tisch. Ob sie wohl angefangen hatte, es zu lesen? Heute Morgen hatte Mamoune einen kleinen Freudenschrei ausgestoßen, als sie ein Buch in Jades Bibliothek entdeckte. Sie zog es heraus und blätterte aufgeregt darin, wie ein kleinesMädchen, das ein verlorenes Spielzeug wiederfindet. Als Jade sie etwas verwundert ansah, erklärte Mamoune, dass einzelne Bücher wichtige Etappen in ihrem Leben als Leserin markiert hatten. Aber wie die meisten Werke, die Mamoune gelesen hatte, war auch dieser Roman von Virginia Woolf wieder in die Stadtbücherei zurückgekehrt, weilte aber auf dem imaginären Bücherregal in Mamounes Herzen an einem guten Platz. Das werde ich noch einmal lesen und doppelte Freude daran haben: es wiederzuentdecken und mich an den Tag zu erinnern, an dem ich es zum ersten Mal las. Freude und die Erinnerung an die Freude. Jade warf einen flüchtigen Blick auf den
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