Fruehstueck mit Proust
Wecker im Flur, sprang auf und schnappte sich ihre Jacke. Lass uns heute Abend weiter darüber reden, Mamoune, ich bin spät dran. Sie verließ die Wohnung im Galopp. Ich mache es genauso wie gestresste Eltern, die immerzu ihre Kinder vertrösten, dachte sie etwas beschämt …
Aber da war sie in Gedanken auch schon wieder bei der Reportage über Polygamie. Der Titel des Romans, über den Mamoune sich so freute, fiel ihr nicht ein.
Bevor Jade ihre Großmutter zu sich holte, schrieb sie ihre Artikel, nachdem die Recherchen abgeschlossen waren, meist zu Hause. Änderte Mamounes Anwesenheit ihren Blick auf die Wohnung? Julien war tagsüber nie da gewesen, so bot es sich an, dass sie die Wohnung zu ihrem Büro machte. Aber jetzt? Zog es sie nach draußen, weil sie sich vergewissern wollte, dass Mamounes Gegenwart nicht auf Kosten ihrer Freiheit ging? Fast jeden Tag in dieser Woche war Jade aus dem Haus gegangen, obwohl sie auch mehr Zeit dort hätte verbringen können.Welche Angst steckte dahinter, wenn sie sich instinktiv beweisen wollte, wie überflüssig es war, Mamoune Stunde um Stunde zu bemuttern? Hatte sie es sich nicht gewünscht, mit ihr zusammenzuleben? Was gab ihr Mamounes Nähe gerade in dieser Phase ihres Lebens, wo sie sich zu einer ungebundenen, für eine Vielzahl von Bestimmungen offenen Frau entwickelte?
Ihr Füße trugen sie von allein durch die tristen Metrogänge, sie hatte kaum bemerkt, dass sie schon umgestiegen war. Hier unten gab es keine sonnigen Tage, hier war es immer schwarz und grau … Bis auf einmal wieder dieses strahlende Lächeln da war und alles andere ausblendete. Der schwedische Inder, oder umgekehrt, hatte ihr gegenüber Platz genommen. Jade sah einen Funken triumphierender Freude in seinen schwarzen Augen, als er verkündete: »Sie nehmen nicht jeden Tag zur gleichen Zeit die Metro.« – »Sie anscheinend auch nicht«, antwortete Jade … Wie sollte man diesem offenen Gesicht widerstehen, das unablässig von einem starken inneren Licht erhellt wurde?
»Rajiv war sich sicher, dass man dem Zufall vertrauen kann! Glaubt Jade an das Schicksal?«
Gestern hatte er noch »Schicksal« gesagt, heute »Zufall«, womöglich waren beide miteinander verbunden … Er hatte sich also ihren Vornamen gemerkt und nutzte die Gelegenheit, sie an den seinen zu erinnern. Jade versuchte ein Lächeln, aber sie hatte das Gefühl, als fiele es erschreckend blass aus. »Ich denke, dem Schicksal sollte man immer nachhelfen«, sagte sie im gleichen Tonfall wie er. »Gute Idee, das Schicksal ist immer sehr glücklich, wenn man ihm hilft!« Sie hatte noch nie mit einem Unbekannten in der Metro gelacht, und es war so angenehm.Sie plauderten wie alte Bekannte. Jade stellte ihm Fragen zu seinem Leben in Paris. Er studierte Biologie oder etwas Ähnliches. Wie alt er wohl war?, fragte sie sich und zwirbelte eine blonde Haarsträhne zwischen den Fingern. In seinen Zügen war so etwas jugendlich Ungestümes, auf den ersten Blick hätte sie ihn höchstens für dreiundzwanzig gehalten, doch die Tiefgründigkeit in seinem ganzen Wesen überraschte sie. Alles, was er sagte, war zweideutig, und es schien ihm ein diebisches Vergnügen zu bereiten, sie über die wahre Bedeutung nachgrübeln zu sehen. Dazu immer diese raue Stimme, die tief aus seinem Innern zu kommen schien. Eine Station, bevor Jade aussteigen musste, beugte Rajiv sich zu ihr herüber. Er hatte ihre Flucht am Vortag nicht vergessen. »Wenn Sie die unerschöpfliche indische Geduld nicht allzu sehr auf die Probe stellen und mir eventuell verraten würden, um wie viel Uhr Sie morgen die Metro nehmen werden?« Sie sagte sich wieder, dass dieses Lächeln ihr Unglück bringen und den Verstand rauben werde, streckte ihm aber rasch eine Karte mit ihrer Telefonnummer hin. »Für den Fall, dass das Schicksal ebenso müde sein sollte wie der Zufall, wählen wir den einfachen Weg.« Mit einer leichten Verneigung steckte er die Karte in die Tasche seiner Jeansjacke. Dann flüchtete sie wieder zur Tür und stieg aus, ohne sich noch einmal umzuwenden, aber als sie mit Herzklopfen über den Bahnsteig ging und der Zug an ihr vorbeifuhr, konnte sie es sich nicht versagen, einen Blick durch das Wagenfenster zu werfen, und sah, wie Rajiv, immer noch lächelnd, ihr ein kleines Zeichen mit der Hand sandte. Sie wusste, dass in den kommenden Minuten ein Teil von ihr sie als Idiotin beschimpfen würde: Was hatte sie sich bloß dabeigedacht, einem Unbekannten ihre
Weitere Kostenlose Bücher