Fruehstueck mit Proust
schloss Jade die Tür auf.
Ich weiß es ja schon lange. Heutzutage möchte man nichts mehr vom Tod wissen. Und jetzt versuchen sie auch noch die Zeit auszulöschen, die ihm vorausgeht. Am liebsten würden sie Alte wie mich ganz aus dem Verkehr ziehen, damit sie nicht den Blick derer stören, die vergessen wollen, dass jedes Schicksal ein Ende hat. Und am besten können sie uns und unsere erkennbaren Gebrechen verstecken, indem sie uns außer Sichtweite in Häuser sperren.
Ich wollte nicht grausam sein, als ich meiner Tochter erklärte, dass in der Zeit, als ich jung war, schon jenes Alter als kanonisch galt, das sie nun erreicht hat. Für ein junges Mädchen gehörten die Sechzigjährigen damals in dieselbe Schublade wie die Achtzigjährigen, Greisinnen halt! Doch eigentlich wollte ich ihr heute etwas anderes sagen.
Und seit ich mit ihr gesprochen habe, fühle ich mich von einer schweren Last befreit. Sie hat mich nie gefragt, wie ich Jeans Abwesenheit verkrafte. Ihr Vater war gestorben, folglich war ihre Mutter untröstlich über den Verlust ihres Lebensgefährten. Weiter ging es nicht. Immer schön an der Oberfläche der Gefühle bleiben. Was weiß sie, die das Alter wohl nicht mehr an der Seite eines Mannes verleben wird, denn der ist ja abgehauen, was also weiß sie von der Einsamkeit? Aber nein, alles Unsinn.Wenn man zu altern beginnt, projiziert man sich nie weit in die Zukunft. Man hält sich lange Zeit für jung. Man hat Projekte. Man hat es überhaupt nicht eilig! Nur frage ich mich, wie Denise das anstellen wird, die Feindin einer jeden Vergangenheit und Zukunft ist.
Wenn ich mir meine Töchter ansehe – mich in das Leben meines Sohnes hineinzuversetzen fällt mir schon schwerer –, finde ich es unglaublich spannend, seine Kinder älter werden zu sehen. Als Babys erinnerten sie mich an die vielen kleinen Wesen, die meine Mutter auf die Welt holte und danach regelmäßig besuchte, um nach dem Rechten zu sehen. Später, als sie schon größer waren, wollten sie von mir wissen, was uns im Leben leitet. Warum schlägt man eine bestimmte Richtung ein? Und wähle überhaupt ich meinen Weg, oder ist er mir vorgezeichnet?
In einem der Träume, die im Alter zwischen dreißig und vierzig durch meine Nächte spukten, sah ich einen sehr schönen Wald voller wunderbarer Wege. Obwohl einer verlockender war als der andere, wollte ich keinen dieser Wege gehen, und wenn ich nun daran zurückdenke, kann ich meinen Wunsch in seiner ganzen Kraft nachempfinden: Ich wollte quer durch den Wald wandern, dem Licht folgen, das durchs Astwerk sickerte, mit einem Stück blauem Himmel als Kompass. Ich weigerte mich, den moosgesäumten, verschlungenen kleinen Pfaden zu folgen. Aus diesem Traum erwachte ich immer mit dem unangenehmen Gefühl, nicht genug Zeit gehabt zu haben, um das Resultat meiner Weigerung zu prüfen. So erfuhr ich nie, ob mein Spaziergang am Ende tatsächlich spannender war als der, den die markierten Wege mir geboten hatten.
Ich habe es nie geschafft, mich an den Fortgang dieses seltsamen Traums zu erinnern, vielleicht habe ich ihn auch nie weitergeträumt. Nur eine Sache veränderte sich. Je öfter dieser Traum mich heimsuchte, desto weniger kümmerte mich die fehlende Zeit. Als hätte ich der Versuchung des vorgezeichneten Weges widerstanden und zugleich den verrückten Wunsch aufgegeben, mich querfeldein durch die Natur zu schlagen.
An einem Tag im Spätsommer, ich legte gerade die Bettwäsche zusammen, nachdem wir viele Gäste gehabt hatten, fiel mir plötzlich auf, dass dieser Waldtraum aufgehört hatte. Damals war ich ungefähr vierzig Jahre alt. Lange Zeit hoffte ich, er würde wiederkommen, damit ich endlich den Ausgang der Geschichte erführe. Doch er kam nicht. Und das beunruhigte mich. Hatte ich schon aufgegeben, mir über meinen gewählten Weg und meinen Abenteuergeist den Kopf zu zerbrechen? Ich habe es nie gewagt, diese übereilte Interpretation zu Ende zu führen, aber der Schauder, die intensiven Empfindungen, die dieser Traum in mir ausgelöst hatte, fehlten mir. Wenn er mir durch den Kopf ging, hörte ich mein Herz schlagen, und schon das ließ darauf schließen, dass er intime Geheimnisse vor mir verbarg.
Ab und an erlebte ich diesen Rausch beim Lesen wieder, diese unermessliche Leidenschaft, die etwas so wunderbar Erregendes hatte. Ich war eingesperrt in mein ruhiges Leben, meinen bedächtigen, sanften Körper, doch in meinem Innern schlummerte ein Vulkan. Würde die Erdkruste nie
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