Fruehstueck mit Proust
gebracht hatte? Der Gedanke war ihr zuvor nie gekommen. Sie war immer noch die Tochter ihrer Eltern und sah das als ganz selbstverständlichan. Und wenn sie mal schlaflose Nächte hatte, dann nicht aus Sorge um ein Kind, das sie auf die Welt gebracht hätte, wie alt auch immer es wäre!
Jade hatte sich immer darüber lustig gemacht, wenn ihre alleinstehenden, kinderlosen Freundinnen über dreißig es mit der Angst bekamen. An diesem Abend nun verstand sie, wie dieses Ungeziefer von Zeit die Menschen in Kategorien einteilte. Das Alter bestimmte den Rhythmus des Lebens, und das ihre schien im Augenblick gerade eine gewisse Leichtigkeit zu verlieren. Schweigend gingen sie die immer noch sehr belebte Straße hinauf, und Jade passte ihren Schritt dem von Mamoune an. Von den Cafés drang sanftes Stimmengewirr zu ihnen herüber. Aus einem geöffneten Fenster perlte eine Etüde von Chopin, die Jade ganz besonders mochte.
»Hörst du? Das ist eines meiner Lieblingsstücke.«
Mamoune blieb stehen, um zu lauschen, und gestand etwas verlegen, dass sie es schön fände, aber nicht viel von klassischer Musik verstünde.
»Dein Vater hörte klassische Musik, als er noch zu Hause wohnte, und das mochte ich gerne. Ich bat ihn immer, seine Zimmertür offen zu lassen.«
»Ich werde dir mal ein paar Stücke vorspielen, Mamoune. Ich glaube, ich weiß, welche Komponisten Papa liebte. Wir hören sie uns gemeinsam an. Das ist doch nicht normal, dass noch nie jemand auf die Idee gekommen ist, dir diese Musik zu schenken. Ich weiß noch, wie du beim Bügeln immer Radio hörtest, aus dem kleinen roten Radio, das so schrecklich knisterte.«
»Stimmt, und meist habe ich mich mit dem Gesang der Vögel begnügt. Ich höre sogar noch die einzelnenStimmen heraus, wenn sie alle durcheinandersingen. Aber nach Jeans Tod, weißt du, habe ich nicht einmal mehr morgens beim Aufräumen Radio gehört, wie ich es früher immer getan hatte. Ich brachte es nicht übers Herz …«
Ihre Stimme erstickte in den Gefühlen, die die Erinnerung an ihren Mann in ihr auslöste; Jade war verzweifelt. Was kann ich ihr zum Trost schon sagen, ich, die ich keine Ahnung habe, was es bedeutet, um den Menschen zu trauern, mit dem man sein ganzes Leben geteilt hat? Wie kann ich ihr nahe sein in dieser tiefen Sehnsucht? Sie drückte die Hand ihrer Großmutter in der ihren.
»Komm, ich werde dir den Tee kochen, den Denise bei Wally nicht trinken wollte. Einen Minztee, den ich aus der Sahara kenne, wo die Frauen ihn mir unter dem Sternenhimmel der Wüste zubereitet haben. Und dazu hören wir die Suiten für Violoncello von Bach.«
Jade drückte Mamoune einen Kuss auf die Schläfe, dort, wo ihr Haar diesen Duft von Veilchen und Rosen verströmte, den sie so liebte. Sie war sicher, dass sie diesen Geruch noch an keinem anderen Menschen wahrgenommen hatte, er würde für immer zu ihrer Großmutter gehören. Sie hakte sich bei ihr unter, und Mamounes weiche Haut an ihrem nackten Arm erfüllte ihr Herz mit Zärtlichkeit.
Doch als sie die Wohnung betrat, hatte Jade den Eindruck, als seien alle Beklemmungen des heutigen Tages zurückgekehrt. Sie kannte diese Lust, zu fliehen, wenn ihr etwas die Kehle zuschnürte, als stünde sie vor einem Ultimatum. Der Schraubstock griff zu und ließ sie erst wieder los, wenn sie ans andere Ende der Welt aufgebrochenwar. War dieses Gefühl nicht auch der Grund für ihre Berufswahl gewesen? Das andere Ende der Welt, in einem anderen Klima zu leben, mit anderen Menschen, den Reiz des Unbekannten zu kosten, um den existentiellen Fragen, die sie bedrängten, aus dem Weg zu gehen … oder sie beantworten zu können, weil sie sich im Exil deutlicher zeigten? Hatte sie sich eingebildet, dieses Fluchtverlangen austricksen zu können, indem sie für Mamoune sesshaft wurde?
Mamoune
J edes Geständnis birgt einen Akt der Liebe, aber nimmt derjenige, den wir in unser Geheimnis einweihen, es auch so wahr? Ich weiß nicht, warum dieser Gedanke mir durch den Kopf geht. Was für ein Tag! Ich freue mich so auf mein Bett! Jade ist mir manchmal ein Rätsel. Zuerst schien sie erleichtert, nicht mit ihrer Tante streiten zu müssen, aber gegen Ende des Abends verkroch sie sich in irgendeinen Kummer. Sie gab sich zwar große Mühe, mich mit ihrer, wie ich meine, von Herzen kommenden Zuneigung zu überschütten, schien selbst aber in einem Wald unendlicher Traurigkeit umherzuirren. Aus allem, was sie tat, sprach eine Gereiztheit, eine Zerstreutheit, die sie in
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